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Partygirl

Marlene Streeruwitz

// Rezension von Eva Magin-Pelich

Eigentlich könnte Madeline Ascher eine selbstbewusste und starke Frau sein, doch das gelingt ihr nicht. Traumatisiert schlittert sie ohne Ziel durchs Leben, findet keinen sie ausfüllenden Sinn. Sie ist schön, sie kann sich in der Gesellschaft bewegen, sie kennt sowohl materielle Armut als auch Reichtum. Doch alle nach außen getragene Sicherheit ist nicht wirklich, in ihrem Inneren ist Madeline ohne Selbstwertgefühl, wie eine Schnecke in sich zurückgezogen.

Partygirl ist der neue Roman von Marlene Streeruwitz, die jüngst als erste Frau auf die Samuel-Fischer-Gastprofessur an der Berliner Freien Universität berufen wurde. Der Roman erzählt im gewohnten Streeruwitz’schen stakkatoartigen Stil, geprägt durch die kurzen Sätze und Halbsätze, den ausgedehnten Gebrauch des Punktes am Satzende, die sparsame Anwendung des Kommas die Geschichte Madelines im Rückblick und – trotz des Gebrauchs der dritten Person – aus ihrer eigenen Perspektive. Was andere denken, wie andere handeln, wir erfahren es nur aus der Sicht Madelines. Wir befinden uns sozusagen im Hirn Madelines, nehmen an ihren Gedanken teil. Selbst wenn Madeline in einem Buch liest, lesen wir wortwörtlich den Text mit. Beginnend mit dem Jahr 2000 geht es in der Zeit zurück bis ins Jahr 1950 in das heimatliche Baden bei Wien. Jedes Kapitel schildert Erlebnisse und die Gefühlswelt Madelines in einem früheren Jahr in einer anderen Stadt.

Madeline Ascher – dieser Name ruft die Erinnerung an einen anderen Lesestoff hervor und dies nicht von ungefähr. Die Kurzgeschichte des amerikanischen Schriftstellers Edgar Allen Poe Der Untergang des Hauses Usher, erschienen 1839, diente Marlene Streeruwitz als Vorlage für ihren Roman. In der Geschichte Poes geht es um das Sterben des Geschlechtes der Usher, deren letzte Vertreter die Geschwister Roderick und Madeline Usher sind. „Partygirl“ stellt gewissermaßen die Ausfüllung der Figur der Madeline dar. Beide Frauen lieben den falschen Mann, in beiden Fällen ist Roderick der leibliche Bruder und eine auch körperliche Liebe somit verboten. Bei Poe wird das Drama nur angedeutet, ist mehr Interpretationssache, bei Streeruwitz zeigt sich der Inzest deutlich. Das eigentliche Drama für die Streeruwitz’sche Madeline ist aber, dass der Bruder sich als Mann von ihr zurückzieht, er nur noch die Bruderrolle einnehmen will. Sie hat jedoch nie aufgehört ihn als Frau zu lieben. Rick läßt den Inzest nicht mehr zu, verlassen wird er sie nicht, aber auch nicht mehr trösten: „Sie war abgeschoben. Als Fall. Krank. Krankheit. Das beschrieb sie. Sie konnte so abgeschrieben werden. Ein Syndrom. Das konnte eingerenkt werden. Geheilt. Rick hatte sich von der Leidenschaft heilen lassen. Er hatte ihre Geschichte. Die gemeinsame Geschichte. Das war zu einer Abweichung degradiert.“ Sexualität ist künftig für Madeline nicht mit Liebe verbunden, sondern erscheint oft wie eine Strafe, die sie für sich wählt.

Madeline verhält sich wie eine Frau, die sexuellem Missbrauch ausgesetzt war. Sex dient ihr als Ersatzhandlung für fehlendes Selbstwertgefühl und den erlebten Verlust. „Im Bett mit einem Portugiesen, der aussah wie Rick. Und den Schmerz der Erinnerung schon währenddessen. Den Verlust schon mitfeiern. Den Verlust zu Gier im Bett wandeln. Und den Verlust so vergessen. Keine Erinnerung an den Verlust. Dann hatte man keinen Verlust. Und keine Erinnerung. Dann konnte man sich leicht fühlen.“ Daneben entwickelt Madeline über die Jahre hinweg eine Essstörung. „Niemand wollte verstehen, wie schwierig es war, etwas in den Mund zu stecken. Das Schmecken. Der Mund. Die Lippen. Sie waren wie zugewachsen. Es ging nicht, etwas anderes zu schmecken. Etwas anderes als den eigenen Mund.“

Der Text verrät nicht, wer den Inzest initiierte, Madeline erscheint aber nicht als Opferfigur. Es fehlt ihr das Verständnis für das Tabu der Geschwisterliebe: „Sie hatte sich ja auch nicht daran gewöhnt, daß es verboten war. Und sie würde sich nie daran gewöhnen.“ Selbst ihrer Psychologin Dr. Mann hat sich nie erschlossen, „wo der Defekt verborgen war.“ Madeline liebt schlicht und einfach den Bruder. Zum Opfer wird sie erst, als der 2 Jahre ältere Rick ihre Liebe nur noch brüderlich erwidert, nun ist sie das Opfer ihrer Liebe. Im Rückblick erkennt Madeline nur in Constantin einen Mann, mit dem eine gleichberechtigte Beziehung möglich gewesen war: „Sie hatte sich nichts erkauft. Constantin hatte viel mehr Geld als sie. Sie hatte ihm vertraut. Hatte Vertrauen entwickelt. Wie die Dr. Mann das gesagt hatte. Und sie hatte ihr Leben nicht verändert. Seinetwegen.“ Hier zeigte Madeline einmal Selbstwertgefühl und Eigenbestimmtheit. Doch Constantin hat sie überraschend verlassen und Madeline fühlt sich betrogen, dem Tod näher gekommen. Er war auch der Mann, dem sie von ihrem Vater erzählte. Ein weiteres Trauma, welches Madeline tief verborgen in sich trägt.

Es ist der Selbstmord des Vaters, der nicht ertragen konnte, dass auch jüdisches Blut in seinen Adern floss, eines Vaters, der zwei Kriege aktiv erlebt hatte, der seine Kinder kaum kannte, sie nur auf Heimat- und Fronturlaub sah, ein Mann, der keinen Halt in der Welt mehr fand. Alle glauben, dass das Kind Madeline den toten Vater, der sich in den Kopf schoss, nicht gesehen hatte. Doch das stimmt nicht, Madeline schaute hin und hat seitdem Schuldgefühle. „Sie hätte nicht hinschauen sollen. Sie hatte deswegen auch nicht geschrien. Weil sie nicht hinschauen hätte sollen. Die Großmutter glaubte immer noch, daß sie so tapfer gewesen wäre. Aber es war Neugierde gewesen. Und sie hatte gleich gewußt, daß sie nicht schauen hätte dürfen. (…) Sie war nicht schlecht. Nicht richtig. Sie würde nicht in die Hölle kommen. Aber in den Himmel. Gleich. Das schaffte sie nicht. Sie würde ins Fegefeuer müssen. Lange. Auch weil sie es der Großmutter nicht gesagt hatte. Daß sie den Vater gesehen hatte. Nachher.“

Rick fasste den Entschluss, seinem Leben einen Sinn zu geben, er wurde Altertumsforscher. Seine Strategie, die Familie hinter sich zu lassen, lässt einen gesunden Überlebenswillen erkennen. Madeline dagegen sehnt sich nicht nach einem Lebenssinn: „Sie würde der Zeit zusehen. Das mußte reichen. Dasitzen und zusehen, wie die Falten tiefer wurden. Und sonst keinen Sinn.“ Madeline ist eine vom Leben und ihrer Unfähigkeit, es selbstbestimmt in die Hand zu nehmen, gequälte Frau. Ist sie ein „Partygirl“, wie es der Titel suggeriert? Eher könnte man sagen, sie ist eine Frau auf der Flucht, auf der Flucht vor dem eigenen Leben, auf der Flucht vor dem toten Vater und der verlorenen Liebe. Marlene Streeruwitz macht uns vor, wie man mit Literatur aus dem 19. Jahrhundert auch umgehen kann. Vielleicht ist es ihr sogar gelungen, die Neugierde an dem Poe-Text bei einigen Lesern wieder oder neu zu wecken. Das Interesse der Leser an Partygirl jedenfalls ist der Autorin zu wünschen.

Marlene Streeruwitz Partygirl.
Roman.
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2002.
416 Seiten, broschiert.
ISBN 3-10-074426-8.

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Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 10.04.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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