#Roman
#Debüt

Paradiesstraße

Sina Kiyani

// Rezension von Sabine Schuster

Im kleinen, aber feinen Wiener Newcomer:innen-Verlag editon exil ist das Romandebüt des iranisch-österreichischen Autors Sina Kiyani erschienen. Paradiesstraße erzählt aus der Perspektive seines jugendlichen Helden Ramin die Geschichte einer Liebe, die so einfach sein könnte. Doch Ramin und sein Freund Aschkan leben im Iran des Jahres 1980, zwei Jahre nach der Islamischen Revolution, auf homosexuelle Handlungen steht die Todesstrafe.

Ich sah Aschkan das erste Mal in der Bibliothek, es war Frühling und wir hatten gerade die Neujahrsferien hinter uns. Er hockte vier, fünf Tische weiter in der Reihe mir gegenüber. Das Bild Ajatollah Khomeinis hing über ihm und nichts verläuft mit dem Revolutionsführer im Hintergrund reibungslos, und das ist echt freundlich ausgedrückt. Da saß er also, das Kinn auf einer Hand abgestützt, und mit der anderen blätterte er – eher gelangweilt – in einem Buch. Logisch, wir waren ja in einer Bibliothek. (S. 9)

Ein harmloser erster Satz, ein zweiter, im dritten manifestiert sich schon die Bedrohung, trotz des jugendlichen Slangs in der Sprache des Erzählers, einer charmanten Schnoddrigkeit, die nichts ganz ernst zu nehmen scheint. Dieser Ramin ist flink, eloquent und begabt, er liebt das Kino und die Literatur – und er bastelt Puppen, die er verkauft, um sein Taschengeld aufzubessern. Zu Hause in der Familie muss Ramin seine Homosexualität verbergen, nur Herr Hamid, der einen Imbissstand in der Paradiesstraße betreibt, kennt das Geheimnis seines jungen Stammkunden und versichert, es sei bei ihm gut aufgehoben. Ramins neueste Verliebtheit erkennt er sofort am Glanz in seinen Augen.

Die vertraulichen Gespräche in der Paradiesstraße bilden das Herz dieses Romans, hier steht man auch als Leser:in und erlebt die zügellose Begeisterung des Burschen und die väterlichen Warnungen des älteren Freundes hautnah mit. Dass diese Geschichte nicht gut ausgehen kann, ahnt man von Anfang an, doch Sina Kiyani kontrastiert die düstere politische Situation mit Figuren voller Humor und Lebensfreude und stattet seinen Roman mit zahlreichen farbigen Details aus, etwa in den turbulenten Familienszenen, die westliche Orient-Klischees zu parodieren scheinen und an einschlägige Kino-Komödien erinnern. Ramins Zuhause ist ständig voller Menschen, die resolute Mutter ist mit der ganzen Stadt verwandt, Cousine Feria stellt ihm nach, Onkel Iradj schläft auf dem Wohnzimmerteppich seinen Rausch aus, rund um die Uhr wird Tee getrunken und lautstark die Lage besprochen, etwa mit Mutters heulender Freundin Sama, die geschieden ist und nach islamischem Recht ihren achtjährigen Sohn an den Vater übergeben soll. Sie entschließt sich zur Flucht und wird von Ramins Familie tatkräftig unterstützt.

Schon der erste Versuch, in diesem Haus ein paar Stunden allein mit seinem Freund zu verbringen, mündet in einer Beinahe-Katastrophe, vor der das heimliche Paar gerade noch ins Kino entkommen kann. Apropos Kino – Ramin entwickelt eine wahre Leidenschaft für westliche Filme wie Mord im Orient-Express oder Die Katze auf dem heißen Blechdach, er lernt sie auswendig wie Gedichte, schlüpft in fremde Rollen, beim Kinobesuch werden er und Aschkan zum Liebespaar auf der Leinwand und träumen von einer fernen Welt:

Die Saallichter gingen aus und der Orient-Express begann zu rollen. Kuppeln und Minarette schossen hoch und zeichneten die Silhouette von Istanbul. Mein Blick schweifte seitlich zu Aschkan, unsere erste Reise, die Hochzeitsreise, und wir waren so unsterblich ineinander verliebt wie Graf und Gräfin Andrenyi. […] Ich schnitt ihre Köpfe aus und setzte Aschkans und meinen auf ihre Rümpfe.
Ich werde nicht zulassen, dass Sie meine Frau beleidigen. Schon gut, Liebling. Schon gut.
[…] Ich rutschte unbequem in meinem Sitz hin und her und streifte Aschkans Schulter, und er flüsterte mir ins Ohr: »Geile Wahl!«, und alles war auf einmal gut, mit nur zwei Worten. Ich seufzte erleichtert. Unter der Armlehne berührten sich unsere Hände und blieben so bis zum Schluss des Films. Als wir aus dem Kino gingen, sagte er, dass der Film ihm gefallen hätte und dass der Nachmittag doch nicht so übel verlaufen war, und ich wusste nicht, ob er das nur sagte, um mich zu beruhigen. Also lachte ich und sagte: »Das sagst du nur so.«
»Todernst!«, sagte er. »So schöne Leute, und wo die überall herkommen.« »Frankreich, Italien, Griechenland, Ungarn«, sagte ich. Ich hätte auch Amerika, England, Deutschland und Russland aufgezählt. Da unterbrach er mich und sagte: »Und das Gedicht erst. Total schön.«
»Das von Fräulein Hildegard Schmidt?«, fragte ich und blieb stehen. »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,/ Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,/ Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,/ Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,/ Kennst du es wohl?/ Dahin! Dahin/ Möcht’ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.« (S. 71f.)

Bald weiß jedoch Ramins Familie von der Affäre und ausgerechnet beim Urologen, einem Cousin der Mutter, der ihn von seiner „Krankheit“ heilen soll, erhält er professionelle Rückendeckung und erfährt ganz nebenbei vom Hammam des Regenten, in dem sich Männer ungestört miteinander vergnügen können. Was gut gemeint ist, besiegelt am Ende das Schicksal der beiden Verliebten, denn ihre erotischen Nachmittage in den Dampfschwaden der Badeanstalt bleiben nicht unbeobachtet. Ramins eifersüchtiger Nachhilfeschüler Djamal verkehrt ebenfalls dort und fordert mit Nachdruck eine sexuelle Beziehung ein, die Ramin verweigert.

Nun wird Ramins Leben von Tag zu Tag komplizierter, Djamal erpresst ihn ganz offen, in der Schule wird er gemobbt und das Geld reicht nicht mehr für die regelmäßigen Besuche im Hammam. Zudem leidet sein Vertrauen in Aschkan unter einem streng gehüteten Geheimnis. Warum hat Aschkans Familie Teheran verlassen, um nach Shiraz zu ziehen, was hat das alles mit dem neuen Kommandanten der Revolutionswächter, einem gewissen Bruder Keschmiri zu tun, oder mit Herrn Hamids Freund Qassem, der für die Wächter arbeitet und zwischen Waffengeschäften und öffentlichen Auspeitschungen am Imbissstand herumlungert? Die Sittenwächter in ihren gelben Toyota-Jeeps kontrollieren die Stadt immer lückenloser, das Geschäft von Herrn Tavassoli, einem Bahai, für den Ramin seine Puppen anfertigt, wird überfallen, bei Ferias Geburtstagsfest gibt es eine Razzia im Haus von Onkel Iradj und eines Tages taucht in der Schule eine Abordnung der Revolutionswächter auf. Alle, die sich freiwillig melden, und zwar zum Kriegsdienst, werden vom Unterricht freigestellt. Aschkans Eltern beschließen, ihre beiden Kinder nach Paris in Sicherheit zu bringen.

Sechs Tage vor Schulbeginn flogen Aschkans Mutter und seine Schwester nach Teheran, ohne sich von jemandem – jedenfalls nicht von mir – zu verabschieden, und von dort weiter nach Paris. Seit der Revolution darf man nur noch über Teheran ins Ausland fliegen. Klar, die Jungs wollen ganz genau wissen, wer ein- und ausreist. Seine Mutter würde bald zurückkommen, hieß es, und in einem Jahr sollte er, mit dem Diplom in der Tasche, der Schwester folgen. Ein ganzes Jahr lag also vor uns. Doch es kam anders, und langsam schnallte auch der letzte Depp, also ich, dass es nichts mit Schicksal oder Vorsehung oder ähnlichem Quatsch zu tun hatte, sondern nur mit der Tatsache, dass unsere Welt uns immer heftiger bekämpfte und uns die Haut abziehen wollte, und zwar nicht nur Aschkan und mir, sondern allen Menschen, die nicht in die Norm passten. (S. 213)

Eine Razzia im Hammam macht, nicht ganz überraschend, alle Pläne zunichte und bildet den Auftakt zu einem Showdown, an dessen Ende nicht nur Ramin und Aschkan, sondern auch ihre Familien einen hohen Preis zu zahlen haben. Sina Kiyani verortet seinen Roman, den er spannend und formal stringent zu Ende erzählt, von Anfang an politisch, indem er folgenden Satz vorausschickt:

Am 19. Juli 2005 wurden in Maschhad, Iran, Mahmoud Asgari, 16, und Ayaz Marhouni, 18, wegen homosexueller Handlungen öffentlich erhängt.

Bis heute ist Homosexualität im Iran gesellschaftlich tabuisiert und wird mit dem Tod bestraft. Im September 2022 wurden erstmals auch zwei lesbische Aktivistinnen zum Tode verurteilt und die Kurdin Jina Mahsa Amini, die ihr Kopftuch zu leger getragen hatte, starb infolge einer gewaltsamen Festnahme durch die iranischen Sittenwächter. Ihr Tod löste eine landesweite Protestwelle aus, doch das Regime konnte sich halten. Im Iran sei „Glut unter der Asche“, titelte der ORF kürzlich zum Jahrestag ihres Todes. (https://orf.at/stories/3330775/). Die aktuelle Verleihung des Friedensnobelpreises 2023 an die Frauenrechtsaktivistin Narges Mohammadi, die eine zwölfjährige Haftstrafe in Teheran absitzt, dürfte diese Glut noch einmal schüren, jedenfalls gilt sie als starkes Signal an die iranische Demokratiebewegung.

Sina Kiyanis Roman ist nicht nur im Kontext dieser Entwicklungen spannend zu lesen, er überzeugt darüber hinaus mit erzählerischer Souveränität und einer äußerst lebendigen Sprache und Figurenzeichnung.

 

Sabine Schuster, Studium der Germanistik und Publizistik an der Universität Wien (Abschluss 1992), Tätigkeit für die schule für dichtung in Wien, die IG Autorinnen Autoren und den Folio Verlag, ab 1993 im Team des Literaturhaus Wien, von 2001 bis 2023 Redakteurin des Online-Buchmagazins.

Sina Kiyani: Paradiesstraße
Roman.
Wien: edition exil, 2023.
376 Seiten, broschiert.
ISBN: 978-3-901899-68-3.

Homepage des Verlags mit Informationen zu Buch & Autor

Rezension vom 16.10.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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