#Sachbuch

Papierarbeiter

Ulrich von Bülow

// Rezension von Ulrike Diethardt; Evelyne Polt-Heinzl

Autoren und ihre Archive.

Nicht immer, wenn LiteraturwissenschaftlerInnen ihre über die Jahrzehnte verstreut erschienenen Aufsätze sammeln, wird daraus ein interessantes Ganzes. Auch Ulrich von Bülow, seit 2006 Archivleiter im Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA), präsentiert im vorliegenden Band vierzehn zwischen 2006 und 2018 veröffentlichte Aufsätze, ergänzt mit zwei bislang unpublizierten Arbeiten zu Stefan Zweig und Nelly Sachs, und geordnet in drei Abschnitte zu den Aspekten „Nachlass-Strukturen“, „Werke“ und „Korrespondenzen“. In diesem Fall ist das Ergebnis eine rundum spannende Lektüre und dank der sorgfältigen Buchgestaltung mit zahlreichen Abbildungen auch ein ästhetischer Genuss.

Ein wenig hat das vielleicht mit der schreibkulturellen Zeitenwende zu tun. Alle vorgestellten (Teil-)Nachlässe betreffen AutorInnen des 20. Jahrhunderts, also jene Generation, die sich noch weitgehend homogen mit dem Begriff Papierarbeiter fassen lässt – unter die sich hier nur eine einzige Papierarbeiterin verirrt. Da die neue Leiterin des DLA Sandra Richter gerade mitgeteilt hat, dass ab nun Computerspiele ihres narratologischen Konzepts wegen Sammlungsgegenstand sind, werden dereinst vielleicht biografische oder werkhistorische Aufschlüsse aus Lieblingsspielen, Score-Statistiken oder auch aus den häufigsten Google-Abfragen von AutorInnen abgeleitet.

Noch sind wir aber in der Papier-zentrierten Archiv-Realität des 20. Jahrhunderts und hier prägen nicht nur individuelle Umgangsweisen mit dem eigenen Besitz die Beschaffenheit der Bestände, sondern auch die Zeithistorie. Radikale Lebensbrüche durch Verfolgung, Exil oder Systemwechsel hinterlassen ihre Spuren in der Zusammensetzung wie in den Überlieferungswegen von Nachlässen. Besonders berührend ist der Splitternachlass, der sich in einer Nachbarwohnung in Nelly Sachs Stockholmer Exil fand. Die ungarische KZ-Überlebende Rosi Wosk hat die Autorin über Jahre praktisch wie emotional betreut, getreulich darüber Aufzeichnungen geführt und private Erinnerungsstücke wie Manuskripte ihrer Freundin aufbewahrt.

Das Exiltagebuch von Karl Löwith hält eine andere Exilfolge präsent, nämlich die finale Entwurzelung, die zu einer „Reise um die Erde in achtzehn Jahren“ (S. 150) führt. Stefan Zweig wiederum schenkte die Manuskripte zu seinem einzigen fertiggestellten Roman Ungeduld des Herzens im Londoner Exil dem Verleger der bibliophilen Corvinus Press Lord Carlow – vermutlich als Dank für dessen Unterstützung bei der Erlangung der britischen Staatsbürgerschaft. Und so haben sich alle „Entstehungsstufen des Romans“ (S. 191) von den ersten Notizen bis zu den Druckfahnen erhalten, eingebunden in edles Maroquin-Leder.

Nachlassbestände von AutorInnen der DDR wiederum sind nicht nur material (S. 113) leicht identifizierbar, sie enthalten auch Spuren verdeckter Kommunikation. In diesen Aufsatz hat sich im Übrigen ein schöner kleiner Druckfehler eingeschlichen. Es wirkt fast, als hätte die Erwartungshaltung des Autors wie der KorrekturleserInnen in Sachen DDR mitgeschrieben, wenn der sowjetische Botschafter in der DDR auf eine Intervention postwendend „regiert“ (S. 123). Ein schönes in diesem Kapitel wiedergegebenes „Dokument der Grenzüberschreitung“ (S. 129) sind die Ausreisepapiere Günter Kunerts, der 1978 die DDR verließ, gemeinsam mit sechs Katern und einer Katze – alle im Veterinärzeugnis namentlich aufgeführt. Auf einen zentralen, hier nicht benannten Unterschied zwischen Schriftstellernachlässen aus Ost und West hat Hans Christoph Buch bereits 2006 in einem Spiegel-Artikel hingewiesen: Die BRD nahm ihren Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann oder Nicolas Born keine Totenmasken ab, „während die Totenmasken von DDR-Größen wie Heiner Müller und Stephan Hermlin im Marbacher Literaturarchiv zu besichtigen sind“.

„Autoren denken kaum daran, durch eine detaillierte Organisation ihres Nachlasses die eigene Wirkungsgeschichte zu lenken.“ (S. 33) So eröffnet Bülow seinen Essay zu W. G. Sebald, der immer wieder ein Spiel mit Nachlass- und Herausgeberfiktionen betrieb. Der Satz hat wohl nicht erst mit der Vorlass-Praxis an Gültigkeit verloren, er war immer schon zumindest auch abhängig von Lebensphasen. Karl-Markus Gauss hat in seinem jüngsten Buch Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer in einem Abschnitt zur Briefkultur mitgeteilt, dass er etwa im Alter von dreißig Jahren begonnen habe, erhaltene Briefe aufzubewahren; sein Sammelverhalten hat sich also verändert, als er sich seiner Bedeutung – nicht nur als Vermittlerfigur – für die Nachwelt bewusst wurde.

Perfekt organisiert sind jedenfalls die 33 Archivkästen im Nachlass Hans Blumenbergs. Sie bergen gut 30.000 mit Rollstempel fortlaufend nummerierte Karteikarten, deren kontinuierliches Anwachsen er wiederum auf eigenen Karteikarten dokumentierte. Dieses zentrale Arbeitsmittel des Philosophen ermöglicht einen einmaligen Einblick in seine Denk- und Schreibarbeit, auch was die Bandbreite seiner Interessen betrifft. So hält eine Karteikarte zum Ordnungsbegriff „Meisterwerk der Definition“ fest, dass das österreichische Innenministerium 1970 verlautbarte, ein Wiener Schnitzel sei nur und ausschließlich ein „gebackenes Stück Kalbfleisch“ (S. 142). Wohlgeordnet sind auch die „Registraturen von Rudolf Pannwitz“, auf Wunsch der Witwe in einem eigenen Kelllerraum aufbewahrt, der beim Neubau des Archivs 1972 gleich eingeplant wurde.

An den 67 Notizbüchern, die Peter Handke 2007 dem DLA übergab, faszinieren „Konturen und lineare Schemata“ (S. 174) auf Text- wie Schriftbild-Ebene genauso wie seine „Sprachspiele“, die nach dem Prinzip von „Lückentexten oder Einsetzübungen“ (S. 171) funktionieren. Bei Martin Walsers Roman Brandung erschließen die erhaltenen Archivmaterialen die Verarbeitungswege von realen Ereignissen und Erlebnissen. Bei den Soldatenbriefen, die Rudolf Alexander Schröder zwischen 1939 bis 1945 erhielt, wird gleichsam an der Rückseite die (Mit-)Schuld seiner lyrischen Tröstungsbotschaften sichtbar. Nicht halten lässt sich mit einem biografisch-historischen Blick Claire Golls Behauptung, die Reise-Ikone aus ihrem Besitz sei ein Geschenk Tolstois an Rilke gewesen.

Spannend ist die Sichtung jenes „Leipziger Kartons“, den der Philosoph Hans-Georg Gadamer 1947 für den Umzug von Leipzig nach Frankfurt ein- und nie wieder ausgepackt hat. Der Briefwechsel zwischen Max Kommerell und seinem Verleger Vittorio Klostermann hat ebenso seine Geheimnisse wie jenes unscheinbare Konvolut von mehr als 40 Briefen – u. a. von Ellen Key und Rudolf Kassner –, die Rilke 1911/12 auf Schloss Duino erhielt und die das DLA 2004 im Wiener Dorotheum ersteigert hat. Martin Heidegger sind gleich zwei Aufsätze gewidmet: einer gilt den 173 von ihm selbst beschrifteten „Buchschubern“ (S. 50) mit Manuskripten und Notizen. Der andere untersucht die Lesespuren in den privaten Exemplaren von Heideggers Sein und Zeit aus den Nachlass-Bibliotheken von Karl Löwith, Hans-Georg Gadamer, Hans Blumenberg, Paul Celans oder Theodor W. Adorno.

Vieles in dieser Aufzählung Angetippte mag vor allem für die Forschung zu den jeweiligen AutorInnen von Relevanz sein. Das Besondere an der Sammlung zu diesen Papierarbeitern aber ist, dass jeder einzelne der Aufsätze weit darüber hinaus eine anregende Lektüre ist – und das nicht nur für jene, die noch in den Zeiten der konkurrenzlosen Papierkultur sozialisiert wurden.

Ulrich von Bülow Papierarbeiter
Sachbuch.
Göttingen: Wallstein, 2018.
351 S.; brosch.; m. Abb.
ISBN 978-3-8353-3361-1.

Rezension vom 07.03.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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