#Prosa

Paloma

Friederike Mayröcker

// Rezension von Walter Wagner

99 Briefe an einen namentlich nicht genannten Adressaten umfasst Mayröckers jüngste Buchpublikation mit dem verheißungsvollen Titel Paloma. Der hier als „lieber Freund“ präsentierte Empfänger ist Eingeweihten und versierten Mayröcker-LeserInnen allerdings kein Unbekannter.
Dem Lebensmenschen und dichtenden Alter Ego, dem zu früh verstorbenen und doch nicht abwesenden Ernst Jandl ist dieser literarische Liebesmonolog gewidmet, der freilich stets dialogisch zu denken ist.

Freimütig berichtet darin die Verfasserin von der alltäglichen Furcht, den Verstand zu verlieren oder gar die Schaffenskraft einzubüßen. Paloma handelt vom mühevollen Prozess des Alterns und Abschiednehmens, ohne indes nach beschönigenden Floskeln zu suchen. Es gibt, wenn der so genannte Lebensabend in die Lebensnacht übergeht, viel Erinnerung, doch wenig Trost, und es bleibt, wenn wir – wie Mayröcker – Glück haben, eine Leidenschaft, in der sich Leben und Schaffen auf ewig miteinander verbündet haben. Nichts könnte diesen Hunger eindrücklicher vor Augen führen als die pointierte Antithese „es geht zu Ende, es ist ein lieblicher Frühling“.

Von diesem Dilemma erzählen diese Briefe dem verinnerlichten Freund und fiktiven Gegenüber. Der topische Blick durch das Fenster der Wohnung hinüber zum Nachbarhaus eröffnet geradezu metaphorisch den Blick auf den Bewusstseinsstrom, aus dessen Tiefe die Schreiberin Vergangenes und Gegenwärtiges schöpft. Erinnerungen an die Sommerfrische in Bad Ischl und Rohrmoos, an Reisen nach Italien und anderwärts scharen sich wie selbstverständlich um die Majuskeln des Glücks: ER, WIR, IHN, UNS. Und so heißt es denn auch in einer Reminiszenz: „WIR waren eine Person.“

Ein elegischer Unterton begleitet fraglos diese Briefe, auf die nur eine Antwort zu erwarten ist, nämlich die eines Publikums, das nicht nach kurzweiliger Lektüre lechzt, sondern bereit ist, sich auf Krankheit, Einsamkeit und Verlust wenigstens literarisch einzulassen. Denn anders als die verschiedentlich zitierte Nathalie Sarraute übt sich die Autorin nicht in diskreter Zurückhaltung. Vielmehr wagt sie es, ihren Ängsten und Gebrechen einen Namen zu geben. In keinem anderen ihrer Bücher fließen buchstäblich so viele Tränen. Nirgendwo sonst blühen und duften aber auch so viele Blumen und Sträucher, flattern Vögel, fahren „Tauben im Flieder“ zum Himmel auf.

Das Schwere und Leichte scheinen sich in diesem von Beglückung und Schmerz getragenen Band die Waage zu halten. Menschen und Bücher fallen dabei maßgeblich ins Gewicht, allen voran der „liebe[r] Freund“, der zugleich der liebste und teuerste ist. Wenn Mayröcker in ihrem schemenhaften Erzählgestus auf André Bretons Briefe an Gala oder Petrarcas Liebesgedichte an Laura verweist, dann deutet sie damit an, was wir längst ahnen: dass die anrührende, zarte Prosa von Paloma Zeugnis ablegt von einer Zuneigung, deren Ausschließlichkeit schlichter nicht umschrieben werden könnte: „[…] Niemand wird je SEINE Stelle einnehmen können und dürfen.“

Friederike Mayröcker Paloma
Briefe.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008.
198 S.; geb.
ISBN 978-3-518-41956-4.

Rezension vom 06.03.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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