#Lyrik

Palais Rotenstern

Martin Kubaczek

// Rezension von Beatrice Simonsen

“ […] wenn Sie nicht ausziehen, setze ich Ihnen / entsprechende Mieter – Sie wissen schon, da ist es / dann nicht mehr so schön ruhig hier. Wenn Sie mir / drohen, sage ich: Da ist die Tür“ (S.10). Dieser fünfte Vers des Gedichts Angebot enthält die Prämisse für die Situation im Palais Rotenstern: Ein ohnehin heruntergekommenes Haus wird so lange abgewohnt, bis es abbruchreif ist und der Besitzer ein neues, besseres und vor allem (für die Mieter) teureres bauen kann. Nun ist es aber nicht die prekäre Wohnsituation, die das poetische Zentrum des Gedichtbands von Martin Kubaczek bildet, sondern vielmehr die bunt zusammengewürfelte Weltfamilie, die in diesem Palast des Verfalls Zuflucht gefunden hat.

„Rotenstern“ assoziiert den roten Stern linksgerichteter Politik und ist vielleicht Zeichen für eine Enklave selbsterfundenen sozialen Wohnens im stillen Kampf gegen das Kapital. Kann aber auch sein, dass eine Adresse im zweiten Wiener Gemeindebezirk gemeint ist, wo eine der letzten billigen Substandardwohnungen hartnäckig als heimatliche Bastion verteidigt wird. Warum der Wiener Autor mehrerer Romane auch diesmal – wie im berührenden Band Nebeneffekte (2015) – das lyrische Format gewählt hat, wird schnell über die bildhaften Skizzen schlüssig, die leicht hingeworfen wirken, dabei die Arbeit des „Verdichtens“ verbergen. Ohne den Zwang von Reim und Versschemata steigt er in kurzen Sequenzen in immer neue Bildräume ein- und aus. Im „Palais Rotenstern“ eilen wir hinter dem Dichter-Ich her, riechen den Lammbraten der Nachbarin, den Schimmelpilz an den Wänden und die Kotze in den Gängen, tauchen Kinder hinter Vorhängen auf und Risse im Dach.

Martin Kubaczek spricht in Ich-Form zu uns und schnell ist man im „Wir“ der Hausbewohnerinnen und -bewohner befangen. Es gilt nicht die Unschuldsvermutung: Nur der Hausbesitzer „höflich […] dunkel gekleidet, bärtig“ (S.10) kann schuld an der Misere sein. Die warnenden Zettel, die überall im Haus verteilt sind, und die Drohungen – selbst von Mitbewohnern – werden aber geflissentlich ignoriert, der eigene Auftrag steht im Vordergrund. Das Dichter-Ich putzt, entrümpelt, repariert und gärtnert glücklich und unerlaubterweise im Innenhof. Zugleich nimmt der von den Hausgenossen so genannte „Professor“ eine Schutzfunktion für seine Mitbewohner ein. Er ist der geheime Patron, eine Autorität, die um Hilfe und Rat gebeten wird. „Professor“ ist auch im multikulturellen Verständnis einer, der als Leitfigur dient und von unschätzbarem Wert, da er einer desorientierten und deklassierten Gesellschaftsschicht die Richtung angibt. Dies steht im krassen Gegensatz zum realen Wert des Künstlers, der in unserer kapitalorientieren Hierarchie am unteren Ende der Skala der Nützlichen steht. Im „Palais Rotenstern“ aber ist er derjenige, der wie ein Baum verwurzelt ist inmitten von Entwurzelten, die auf schwammigem Boden tappen. Er ist der einzige, an den sie sich mit den zahllosen Fragen ihres neuen Lebens wenden können, an dem sie Begegnungen und Sprache erproben, und der ihnen mit Realitätssinn und Mitmenschlichkeit begegnet.

Ob nun der neue Mitbewohner mit Turban den Fisch auf dem gehüteten Gartentisch schlachtet, die Frau im langen Kleid schon vor Tagesanbruch das Unkraut im engen Innenhof jätet, die drei Mädchen namens Blume, Glück und Musik unendlich viele Fragen stellen oder der Mann im „Jogginggewand“ seine Mitbewohnerinnen gegen die Wand stößt – alles spielt sich auf einer winzigen Insel im Meer eines unerbittlichen Alltags ab, gegen dessen gefährliche Wellen es anzukämpfen gilt, um den Kopf über Wasser zu halten. Alltag eben, nichts Besonderes. Nur der Blick des Poeten ist das Besondere, der das Alltägliche, das Nicht-Besondere verdichtet und damit unseren Blick fokussiert. Der Zerfall betrifft nicht nur das Haus, sondern die Gesellschaft, die es sich gemütlich eingerichtet hat in ihren Designerwohnungen und Einfamilienhäusern, ohne die Sprachlosen zu bemerken, die sich dort einnisten, wo man es ihnen gewährt: in überteuerten Wohnverhältnissen mit wenig Aussicht, sich zu verbessern. Das Haus, ein Zufluchtsort und Heimat für die einen, ist für die anderen nur ein Spielstein des Kapitals.

Manch eingestreute Gedichte sprechen von sonnigen Tagen, von Ausflüchten aus der Stadt und ans Wasser, von Treffen mit Freunden und Außenseitern, von Musik, von Lust und Liebe in verschiedensten Spielvarianten. Auch findet das Dichter-Ich Kunst und Philosophie in unerwarteten Zwischenräumen, großartige oder beschämende Momente der Vergangenheit und der Gegenwart, ein Sturz mit dem Rad wird poetisch zugespitzt … Palais Rotenstern bietet den Blick in ein buntes Kaleidoskop, in dem immer wieder eine neue Facette aufleuchtet. Zeile auf Zeile streng gegliedert, immer ohne endenden Punkt, auf diese Art der Text weiter springend, die Titel sorgfältig, oft überraschend gewählt. Der Vorzug der Poesie gegenüber der Prosa ist die Schärfung der Konturen. Was leicht und heiter wirkt, entbehrt nicht des tieferen Sinns, so wie mein Lieblingsgedicht Nepal Rabbit (siehe Leseprobe). Erst auf den zweiten Blick eröffnet sich die Einsicht. Meine Tochter übrigens verfuhr als Kind mit dem Zeichnen von Hasen nicht anders – nur fehlte ihr der weite Horizont des Flüchtlingskindes.

Martin Kubaczek Palais Rotenstern
Gedichte.
Wien: Edition Korrespondenzen, 2018.
100 S.; geb.
ISBN 978-3-902951-29-8.

Rezension vom 20.08.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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