So die Rahmenhandlung des Zweitlings Ostrov Mogila der gebürtigen Grazerin Cordula Simon. Der Roman ist im Wiener Picus-Verlag erschienen. Bereits ihr Debüt Der potemkinsche Hund ließ im letzten Jahr aufhorchen. Die 27-jährige Autorin hat bereits einige Preise und Stipendien erhalten, u. a. den Literaturförderpreis der Stadt Graz und den Gustav-Regler-Förderpreis, und ist von diesem September bis November Stipendiatin des Literarischen Colloquiums in Berlin zu Gast. Die Autorin lebt heute in Odessa, wo sie bereits ein Teil ihres Studiums verbracht hat.So wundert es nicht, dass die Story u. a. in der Ukraine und Österreich angesiedelt ist. Auch wenn die Orte nicht explizit benannt sind. Das Besondere an diesem Roman ist, dass nicht ein Erzähler über die Großwetterlage berichtet, sondern 24 unterschiedliche Personen. Sie schildern jeweils in der Ich-Perspektive, was sie während oder nach dem Beben gemacht haben. Sie sind etwa in Bars gegangen, haben Sex gehabt, sind Metro gefahren oder saßen vor einem Supermarkt. Meist sind es traurige Geschichten: ihre Beziehungen sind – wie die Welt – aus den Fugen geraten. Da gibt es Serjoža, der zwar mit Marina zusammen ist und mit Rima einen One-Night-Stand hat. Oder auch Caterina, die mit Matteo eine Beziehung führt und als er besoffen heim kommt, ihr offenbart, dass er gerne mit einer anderen aus der Bar heimgegangen wäre. Indessen ist Victor unglücklich in Jacqueline verliebt.
Ebenso werden andere gebrochene oder nicht mehr funktionierende Beziehungen thematisiert. Das Groteske: Trotz der Katastrophen sind die Protagonisten mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und auf sich alleine gestellt. Niemand scheint sich über die Folgen der Katastrophe sehr zu sorgen.
Außerdem sind diese fragmentalen Geschichten bestückt mit märchenhaften und mythischen Figuren. Es kommen Einhörner, Riesen, Drachen oder Außerirdische vor. Das Archaische drängt sich in den Mittelpunkt: Mord, Totschlag, zügelose Wut und Eifersucht sowie Sex und Macht. Als ob uns Autorin Simon mit den Märchen und Mythen die Wahrnehmung der postapokalyptische Welt schärfen möchte. Ähnlich wie im Science-Fiction-Roman Mevlidos Träume von Antoine Volodine. Darin wird eine post-apokalyptische Zukunft mit mythischen Figuren erzählt.
Autorin Simon schildert nicht, wie Regierungschefs, Militärstrategen oder Wirtschaftsbosse in solch einer Katastrophe reagieren oder schwerwiegende Entscheidungen treffen. Nein. Sie fokussiert sich auf die „normalen“ Menschen mit ihren Abgründen und dem tiefen Spalt in ihren Beziehungen; sie zeigt sie in ihrer Einsamkeit. Überspitzt: Die soziale Kälte war schon vor der Katastrophe da und zeigt ihre hässliche Fratze nach dem Ereignis. Wird die Menschheit ohne die technischen Errungenschaften weiter leben können? Was bleibt vom sozialen Kitt übrig? Die Besinnung auf Märchen und Mythen? Oder das Ende der Menschheit?
Eine strukturelle Besonderheit des Textes: Die 24 Kapitel und Ich-Erzähler bilden einen Reigen. Wenn eine Person in einem Kapitel erwähnt wird, so ist sie im nächsten als Ich-Figur zu lesen. Aber es kann auch die Mutter, der Nachbar oder ein Internet-User dieser Person sein. Und so hangeln wir uns von Osteuropa nach Mitteleuropa und wieder zurück nach Osteuropa, zum Ausgangspunkt. Es erinnert an einen Sonnettkranz.
Fazit: Simon hat mit Ostrov Mogila eine gelungene Sozio-Dystopie geschrieben. Sie präsentiert ein bitteres Katastrophenszenario, das nicht unwahrscheinlich ist. Sie zeigt zudem präzise die Atmosphäre von Angst, Verzweiflung, aber auch Gleichgültigkeit auf. Ein Roman, der als leidenschaftliche Aufforderung für mehr Gemeinsinn und Nachhaltigkeit zu verstehen ist.