Ach ja, der „Ostblock“! Wer jemals in der DDR war, wird sich an den Geruch der Kohleöfen im Winter und die gelbliche Straßenbeleuchtung, die halbleeren Restaurants, in denen man von Kellnern „platziert“ wurde, und die mickrigen Kuba-Orangen im „Konsum“ erinnern. Andererseits, und das steht auf der Haben-Seite, hatte man im „Ostblock“ die angenehme Empfindung der Zeitlosigkeit. Die übertriebene Geschäftigkeit des Westens war einfach auf der anderen Seite der Mauer zurückgeblieben …
Doch in Didi Drobnas Roman Ostblockherz geht es eben nicht um Ostalgie und nur am Rande überhaupt um den Ostblock, sondern eher um ein bestimmtes, sagen wir mal, Mindset. Die 1988 in Bratislava geborene Drobna lebt seit frühen Kindertagen in Wien. Ostblockherz, ihr vierter Roman, umkreist die Erfahrungen einer aus der Slowakei stammenden Migrantenfamilie, die in Österreich mit Ämtern, Ärzten und Ausländerfeindlichkeit zu kämpfen hat. Die Hauptfigur und Ich-Erzählerin ist ein Alter Ego der Autorin namens Didi Drobna. Mittels Rückblenden nähert sie sich im Lauf des Romans der Familiengeschichte immer weiter an.
Habituelle Unauffälligkeit
Alles beginnt damit, dass Didis betagter Vater sich nach Jahren des Schweigens bei seiner Tochter meldet. Es geht ihm schlecht. Die Rettung muss gerufen werden und der Vater wird ins Hietzinger Krankenhaus gebracht. Weil er sich als Migrant fast schon habituell klein macht, wird er allerdings erst einmal stundenlang von den Ärzten übersehen. Typisch, denkt Didi an seinem Krankenbett:
„Wir würden niemals Umstände bereiten oder Aufwand einfordern. Wir sind anständige, unauffällige Leute. Wir wollten keine Probleme machen und auch keine haben. Wir waren hier, weil es wirklich wichtig war. Geht es nicht ums Leben, geht’s um einen Scheißdreck. An diesen stolzen Ausländer-Schnürsenkeln zog ich mich auch in dieser Situation wieder hoch.“ (S. 9)
Damit ist das Thema gesetzt und wird im Folgenden ausbuchstabiert. Wegen ihrer „Ostblock“-Prägung und -Herkunft hat die Familie Probleme, sich in Österreich heimisch zu fühlen. „Das Aufwachsen in Migration und Prekariat war vor allem von einem begleitet: der regelmäßigen Beschämung. Wir hatten zu wenig, und wir waren zu wenig.“ (S. 40)
„Eldest Immigrant Daughter“
Besonders der Vater, der in der Slowakei Ingenieur war, hadert mit seinem Schicksal. Er fühlt sich als Familienoberhaupt minderwertig, weil seine Abschlüsse nicht anerkannt werden und er trotz zahlreicher Bemühungen die Sprache nicht beherrscht. Notgedrungen arbeitet er auf dem Bau oder als Putzkraft. Didi hingegen fällt die undankbare Rolle der „Eldest Immigrant Daughter“ zu, die in Migrantenfamilien traditionell Eisbrecherin für jüngere Geschwister und Generalkümmerin in einem ist. Zeitweise fungiert sie sogar als Seelsorgerin ihrer Mutter und Nachhilfelehrerin ihres zehn Jahre jüngeren Bruders. Dank ihres perfekten Deutschs dolmetscht sie, was als Selbstverständlichkeit hingenommen und kaum gewürdigt wird:
„Im Alter von sechs Jahren überholte ich Vater sprachlich und nahm für die ganze Familie den Job der Fremdenführerin an. Ein Job, für den ich mich nie beworben und den ich schon gar nicht gewollt hatte, der mir jedoch wie vielen anderen erstgeborenen Migrantentöchtern zufiel.“ (S. 11)
Der österreichische Teil der Familiengeschichte begann Anfang der Neunziger Jahre mit der Mutter, die „rübermachte“ und sich einen festen Job suchte. Der Vater folgte bald darauf. Im Kindergarten quält sich Didi mit dem Deutschen, dabei ganz auf sich allein gestellt. Sie unterwirft sich einer Devise der Familie, zu der es vielleicht keine Alternative gab: „Keine Probleme machen und sich bei allem anstrengen. Extra brav sein, extra fleißig sein. Aber auch extra wenig auffallen und extra wenig fordern.“ (S. 53)
Wertvolle und weniger wertvolle Kinder
Auf ihrem Weg durch die österreichischen Bildungsinstitutionen fällt der kleinen Didi allerdings auf, dass die Kinder schon sehr früh unterschiedlich geschätzt und unterschiedlich behandelt werden:
„Auf der einen Seite standen die französischen Diplomatentöchter mit ihren geflochtenen Zöpfen, die einen derart dicken Akzent hatten, dass sie kaum zu verstehen waren – und dennoch schlugen die Kindergartenpädagoginnen entzückt die Hände über ihnen zusammen. Das andere Ende des Spektrums bildeten türkische oder ägyptische Jungs mit dunkler Hautfarbe und ihrer als grob wahrgenommenen Aussprache, die oft in der Ecke stehen mussten. Ich lernte: Kulturen und Sprachen werden unterschiedlich bewertet. Es gab wertvolle Kinder und weniger wertvolle; eine unausgesprochene, aber allen Erwachsenen bekannte Skala zwischen West-Ost und Nord-Süd.“ (S. 52)
Als die Schulzeit beginnt, wird Didis Leben noch anstrengender. Da die Eltern einen doppelten Schulabschluss wegen des unklaren Aufenthaltsstatus für sicherer halten, sitzt sie von Montag bis Freitag in einer Wiener Schule. Am Wochenende lernt sie in Bratislava. Zu ihrer Überraschung ist die Schule in der Slowakei viel autoritärer, bis hin zum militärischen Drill – und viel weiter fortgeschritten im Stoff.
Verborgene Gefühle
Noch etwas anderes gehört offenbar zum „Ostblockherz“: In Didis Familie ist man es nicht gewohnt, Gefühle zu zeigen, vielleicht, weil es im Kommunismus gefährlich sein konnte, „emotional“ zu sein. Im Krankenhaus umsorgt die erwachsene Didi ihren Vater stattdessen mit kleinen Liebesdiensten: „Willst Du meine Jacke? Ist Dir kalt? Willst Du meinen Sessel für Deine Füße? Hast Du Durst?“ Das Verbergen von Gefühlen hat Folgen auch für das Privatleben: „Wir sind Familie, wir sind uns fremd.“ (S. 11)
Im Krankenhaus beginnt in all dem Chaos eines überlasteten Gesundheitssystems eine zaghafte Annäherung zwischen Vater und erwachsener Tochter. Der Vater erzählt irgendwann sogar von seiner Jugend. Er erlebte die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Rote Armee, auf die Jahrzehnte des „Neostalinismus“ folgten, wie es im Buch heißt.
Überraschendes Ende
Der Roman endet – sehr versöhnlich – damit, dass die ganze Familie gemeinsam nach Schottland fährt, das mit seinen trutzigen Burgen und der karstigen Landschaft Didis Lieblingsland ist. Das kommt etwas überraschend, weil man als Leser eher damit gerechnet hätte, dass die Familie gemeinsam die Slowakei, das Land ihrer Herkunft, besucht. Darauf schien die Handlung, die immer tiefer in die Vergangenheit führt, hinauszulaufen.
Didi Drobnas Buch beruht zum großen Teil auf pointierten Dialogen mit viel lakonischem Humor. Das subjektive Empfinden, die familiäre „Temperatur“, steht im Mittelpunkt. Ostblockherz ist ein kluger und warmherziger Roman, der sich auch mit einem von der Erzählerin mehrfach zitierten slowakischen Sprichwort charakterisieren ließe: „Wir stolpern durchs Leben und dann sind wir weg.“
Judith Leister lebt in München. Nach dem Studium der Literaturwissenschaften in München und Berlin ist sie heute als freie Journalistin vor allem für die Neue Zürcher Zeitung und den Deutschlandfunk tätig.