#Roman

Orangen für Dostojewskij

Michael Dangl

// Rezension von Angelo Algieri

„Ich habe Venedig noch mehr geliebt als Russland“, schreibt Fjodor Michailowitsch Dostojewskij (1821 – 1881). Bereits in jungen Jahren stellt für ihn die Lagunenstadt einen Sehnsuchtsort dar. Ausgelöst etwa durch die Stücke Goldonis sowie Werke von Goethe und de Laclos. Später gesellten sich etwa Shakespeares und Schillers Texte sowie Rossinis Opern hinzu und verstärkten seine Sehnsucht nach Venedig, ja insgesamt nach Italien.

Der bekannte Schauspieler und Schriftsteller Michael Dangl führt in seinem neuesten Werk Orangen für Dostojewskij den russischen Ausnahmeschriftsteller fiktiv mit dem italienischen Starkomponisten Rossini in Venedig zusammen. Ein historischer Roman zur spannenden Frage: Was hätten Dostojewkij und Rossini einander zu sagen gehabt oder gar gemeinsam erlebt? Denn sie hätten tatsächlich 1862 in der Lagunenstadt aufeinander treffen können.

Im Mittelpunkt des Plots steht Dostojewskij, der im August 1862 in Venedig eintrifft und zwei Tage bleiben möchte, um danach seine erste Westeuropareise über Triest und Wien nach St. Petersburg zu beenden. Davor ist er u.a. in Berlin, Paris, London und Florenz gewesen. Aber auch in Baden-Baden, wo er Turgenjew getroffen hat. Er wird von Beppo, einem kleinen, korpulenten, äußerst servilen Mann am Bahnhof abgefangen, der seinen Koffer bis zum Hotel trägt und ihm in den darauffolgenden Tagen dienlich sein möchte, wenngleich dies den kauzigen Dostojewskij nervt. Er möchte weitestgehend seine Ruhe haben und sich von der Lagunenstadt treiben lassen. Allerdings setzt ihm die Hitze arg zu, selbst im Schatten ist es unerträglich heiß. Am Abend des zweiten Tages setzt er sich in eine Osteria, um zu speisen und zu trinken, als er aufgefordert wird, sich dem Tisch Gioachino Rossinis anzuschließen.
Dostojewskij, der Rossinis Werke abgöttisch liebt, kann kaum glauben, vor dieser Legende zu stehen. Fatalerweise hat er bis dato geglaubt, dass dieser bereits tot sei. Denn Rossini komponiert seit 1829 keine Opern mehr; der Genussfreudige hat sich seitdem als Schöpfer von Kochrezepten, etwa Maccheroni alla Rossini, versucht. Der russische Schriftsteller erlebt ein fröhliches Fress- und Saufgelage mit viel Gesang und reflektierten Gesprächen mit Rossini, der ihn prompt für den darauffolgendem Morgen ins Café Florian einlädt. Dort wohnt er einer konspirativen Sitzung bei. Denn die Bürger Venedigs möchten sich der österreichischen Besatzung schnell entledigen und sich dem neugegründetem Italienischen Reich anschließen. Die Atmosphäre in Venedig ist deshalb vergiftet und Österreicher und Italiener begegnen einander kaum. Das erinnert Dostojewskij an seine anti-zaristischen Treffen, die wegen eines Spitzels in der Gruppe aufgedeckt worden sind. Dostojewskij ist zum Tode verurteilt, die Strafe jedoch im letzten Moment zu Arbeitslager in Sibirien umgewandelt worden. Traumatisiert kam er nach zehn Jahren nach St. Petersburg zurück – dank einer Amnestie des neuen Zaren.

Doch Rossini hat ihn ins berühmte Café einberufen, weil er eine allerletzte Oper komponieren möchte. Und Dostojewskij soll sein Librettist werden. Im Mittelpunkt dieser Opera buffa soll Casanova – und nach Rossinis Wunsch vor allem die Lagunenstadt stehen. Als Anreiz lässt Rossini dem Dichter Geld und Opernkarten für das Opernhaus La Fenice hinterlegen. Es wird Rossinis „Die diebische Elster“ gespielt. Dostojewskij ist sich der Libretto-Bürde bewusst, die Entscheidung eilt nicht und so geht er derweil – angeregt auch von den Memoiren Casanovas – in illegale Spielcasinos und zu Prostituierten. Im Casino hat er eine Glückssträhne und gewinnt das x-fache seines Einsatzes, an einem anderen Abend allerdings verliert er sein letztes Geld und seinen Ehering. Einer vermeintlichen Prostituierten folgt er durch verarmte und dreckige Viertel bis in ihre Familienwohnung im bekannten jüdischen Ghetto. Doch zum Sex kommt es nicht, beschämt verlässt er die heruntergekommene Wohnung. Venedig ist nicht nur eitler Serenissima-Sonnenschein!

In den nächsten Tagen erlebt er die italienische Leichtigkeit, gemeinsam mit Rossini und seiner Entourage wird ein Ausflug am Lido organisiert: Es wird gelacht, gesungen, gegessen, getrunken, gespielt, geliebt. Doch bei Ausbruch eines Gewitters, das sich nach heißen Tagen endlich entlädt, bekommt Dostojewskij einen epileptischen Anfall …

Schriftsteller und „Zauberer“ Michael Dangl lässt nicht nur die Lebensgeschichten der beiden Künstler bis 1862 geschickt Revue passieren, sondern er übernimmt auch ihre Charaktere mit Verve und Hingabe, so dass man wirklich das Gefühl hat, beide hätten einander so und nicht anders getroffen. Der äußerst belesene Autor schafft es, die Epoche und die Stimmung in der Lagunenstadt gut zu transportieren – ohne je monumental oder kitschig zu werden. Er beschreibt den Hass der Venezianer auf die k.u.k-Monarchie und wie man regelmäßig „Viva Verdi“ hört, ohne jedoch den anderen italienischen Komponisten zu meinen, sondern das italienische Akronym Vittorio Emanuele, Re d’Italia (Viktor Emanuel, König Italiens). Jedoch belässt es Dangl nicht nur beim Österreich-Bashing, er legt Rossini auch in den Mund, dass die Österreicher im Königreich Lombardei-Venetien Eisenbahnstrecken und die Brücke, die Venedig mit dem Festland verbindet, gebaut haben, und dass Metternich, wenn er mal keine repressive Politik machte, ein umgänglicher, an Kunst interessierter Mann gewesen sei. Darüber hinaus skizziert Dangl sehr anschaulich das Leid, das die Schlacht bei Solferino (1859) der Bevölkerung gebracht hat, da die einen Italiener für Österreich kämpften, die anderen für ein geeintes Italien.
Das ist meines Erachtens die besondere Kraft des Romans – er zeigt auf, wie sehr Frieden, Offenheit und Begegnung sowie Kunst die Essenz des Lebens darstellen. Das kommt sehr gut am Schluss des Buches zum Ausdruck, im Monolog Dostojewskijs über „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Darin finden spannende gesellschaftspolitische Reflexionen statt, was „wahre“ und „nachhaltige“ Kunst ausmache.

Natürlich hat Dangl Anspielungen und Hinweise auf Dostojewskijs Figuren und Buchtitel en passant eingeflochten – von „Arme Leute“ über „Der Idiot“ und „Der Spieler“ bis hin zu „Schuld und Sühne“. Eine regelrechte Hommage an Dostojewskijs Werk und ein unbedingtes Lese-Muss für all seine Fans. Aber auch Verehrer Rossinis, der, wie Dangl richtig aufzeigt, an manischer Depression litt, kommen zu ihrem Genuss.

Michael Dangl hat einen mehrschichtigen, spannenden und reflektierten Venedig-Roman über zwei großartige Künstler geschrieben. Rossini und Dostojewskij mögen auf den ersten Blick nicht zusammenpassen – doch Dangl schafft es auf kurzweilige, wundervolle Weise, sie zusammenzuführen. Bravo Maestro!

Michael Dangl Orangen für Dostojewskij
Roman.
Wien: Braumüller, 2021.
480 S.; geb.
ISBN 978-3-99200-297-9.

Rezension vom 22.03.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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