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Ohnehin

Doron Rabinovici

// Rezension von Nicole Katja Streitler

Doron Rabinovici versucht sich in seinem zweiten Roman an einem Wiener Stadt-Roman mit Gegenwartsbezug. Und, man kann es vorwegnehmen, das Ergebnis vermag nicht gerade zu überzeugen. Das Buch will ein gesellschaftliches Panorama schildern, wirkt aber irgendwie vollgestopft wie die Gemüsestände auf dem Wiener Naschmarkt, den der Autor in immer neuen Anläufen als multikulturellen Mikrokosmos und exotisches Spezialitätengeschäft darzustellen sucht. Vieles steht dort nur nebeneinander und gehört nicht wirklich zusammen.

Eine ganze Reihe von Figuren wird eingeführt und, wie es sich für eine feine kleine Romanwelt gehört, sie kommen alle irgendwie irgendwann – und sei es über etwas ächzende Konstruktionen – miteinander in Berührung: Doktor Herbert Kerber, ein praktischer Arzt und ehemaliger SS-Untersturmführer, der aufgrund einer Gedächtnisstörung in zunehmendem Maße das Jahr 1945 für die Gegenwart hält, Patrique Mutabo, ein aus dem Kongo stammender „waschechter Österreicher“, Lew Feininger, ein Soziologe jüdischer Herkunft, der eine Ausstellung über die Todesmärsche am Ende des Zweiten Weltkriegs organisiert, Studenten der Wiener Filmakademie, unter ihnen die Videokünstlerin Flora aus dem Kosovo, die in ihren Filmen das Leben und Überleben illegaler Flüchtlinge in Österreich dokumentiert, Paul Guttmann, ein alter jüdischer Geschäftsmann und Kunstsammler, der es im Nachkriegs-Wien zu Geld und Ansehen gebracht hat, die Naschmarkt-Familien Alexandrus und Ertekin, deren Kinder Theo und Irin – eine Art Romeo und Julia von der Wienzeile – sich schließlich kriegen und damit auch dem Sich-Bekriegen ihrer griechischen und türkischen Standler-Familien ein Ende bereiten. Verbindendes Glied und im Zentrum aller dieser Geschichten ist Stefan Sandtner, ein junger Neurologe mit Spezialgebiet Gedächtnisforschung.

Dieser vermeintlich zeitgemäße Multikulti-Gesellschaftsschichten-Mix ist aber nur auf den ersten Blick bunt. Sieht man genauer hin, bröselt überall die Farbe ab, und unter all der multiethnischen Schminke kommt immer nur das eine Märchen von Bildungselite und Erfolg, ein allerdings höchst zeitgemäßes Märchen, zum Vorschein. Und damit ist man fast schon beim Trivialroman angelangt. Ein Roman, der vielschichtige Figuren zeichnen will, darf sich jedoch nicht mit typenhaften Schemen begnügen. Auch stilistisch ist das oft wenig überzeugend. Die Figuren sprechen genauso gekünstelt, wie sie sind. Wer antwortet denn heute noch mit „Wunderbar“ auf das simple Anbot, zum Essen zu bleiben? Wohl höchstens „das Kind eines Mitglieds des Verfassungsgerichtshofs und einer Steuerberaterin“, als das Stefan Sandtner ausgewiesen wird.

Im zentralen Handlungsstrang wird Doktor Kerber von seinen Kindern Hans und Bärbl und unter Mitwirkung des Neurologen Sandtner einem pharmakologischen Experiment unterzogen, zunächst um ihn von seiner Gedächtnisstörung zu heilen, dann jedoch um ihn vermittels einer Art Erinnerungsfolter gezielt zu Geständnissen über seine NS-Verbrechen zu bringen. Das Experiment scheitert und endet mit einem kolportageartigen Showdown, in dem Sandtner gerade noch einmal der Versuchung widersteht, es sich auf gut österreichische Weise durch Freunderlwirtschaft und Vertuschung zu richten.

„Einmal muß Schluß sein“, so beginnt der sonst fast ironiefreie Roman mit einer ironischen Volte und führt damit sofort die zentrale Thematik von Erinnerung und Vergessen ein. Sie taucht im Text in vielfältiger Form auf, etwa als politische Forderung (der Rechten) nach einem Ende (auch) des gesellschaftlich institutionalisierten Erinnerns an die NS-Greuel, als gesamtgesellschaftliche Fragestellung also, aber auch als individuelle. Alle Figuren des Romans tragen eine mehr oder weniger schmerzhafte oder problematische Vergangenheit mit sich herum, die ihren Umgang mit der Gegenwart auf je spezifische Weise prägt. Und seltsamerweise ist es gerade die private Ebene, die Ebene der Liebesbeziehungen und Beziehungsformen, auf der der Text am ehesten zu überzeugen vermag. Sandtner etwa hat das Ende einer langjährigen Beziehung zu einer Arztkollegin zu verschmerzen. Durch feine Detailbeobachtungen, die zweifellos an persönlichen Erfahrungen geschult sind, vermittelt der Autor, was es heißt, einen ehemals Fremden, der zum (scheinbar) Vertrautesten geworden ist, wieder in die Fremdheit zu entlassen. Und fast neigt man angesichts solcher Stellen der alten Losung der siebziger Jahre zu, wonach das Private das eigentliche Politische sei.

Doch genau gegen diese Losung schreibt der Autor beharrlich an und besteht auf einer notwendigen Trennung des Individuellen und des Gesellschaftlichen, auf der Verschiedenheit der Gesetzmäßigkeiten beider Bereiche. Und darin hat man ihm wohl auch Recht zu geben. Denn wo das Vergessen im Privaten eine mitunter notwendige Überlebens- und Weiterlebensstrategie darstellt, wirkt es im Politischen stets fatal. Ein Roman, der auf dieser Aporie aufbaut, muss vielleicht notwendigerweise disparat sein, aber stilistisch mangelhaft und überladen noch lange nicht.

Rabinovicis Stärken liegen in der präzisen Wahrnehmung der Mechanik menschlicher Beziehungen und in einem bizarren (jüdischen) Humor, von dem im vorliegenden Buch nur ganz wenig aufblitzt. Das allzu Diskursive und um Vollständigkeit Bemühte wirkt dabei nur störend. Mehr Verknappung hätte dem Buch gut getan. Der Autor hat sich seine Aufgabe zu weit gestellt, und man wünscht ihm, daß er sich in Zukunft wieder auf seine eigentlichen Stärken besinnen möge.

Ohnehin.
Roman.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004.
256 Seiten, gebunden.
ISBN 3-518-41604-9.

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Rezension vom 05.04.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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