#Roman
#Debüt

ohnegrund

Schulamit Meixner

// Rezension von Alexander Kluy

Nudnik. Das jiddische Wort, laut lexikalischer Angabe nur noch selten im Gebrauch, bedeutet so viel wie „Langweiler“. Die zahlreichen Figuren aber in Schulamit Meixners Erstlingsroman ohnegrund sind allesamt keine Langweiler, sondern sie sind klar, hie und da auch pittoresk und mit großer Sympathie gezeichnet.

Die einzigen zwei Nudniks in diesem Buch tauchen ganz zum Schluss auf, in einer Erzählung, in der es heißt, diese beiden traurig verhatschten Malachim, Engel also, seien von Gott, der ob ihrer Nichtsnutzigkeit schier verzweifelte, auf die Erde geschickt worden, mit dem Auftrag, das jüdische Volk zu begleiten und Ihn mit Berichten permanent auf dem Laufenden zu halten. Doch das Duo brachte, naturgemäß, heillos die Chronologie durcheinander, sie vergaßen viele Sachen zu notieren, so dass ihre Chronik unvollständig war und Seiten abgängig waren, letztlich gaben sie nichts ab. Vor allem jedoch gaben sie nichts an Ihn weiter, da derart fürchterliche Dinge auf Erden dem jüdischen Volk, das sie begleiteten und beobachteten, angetan wurden, dass sie nicht wagten, es Ihm zu übermitteln, ohne auf ewig verbannt zu werden.

Schulamit Meixners ohnegrund kommt schmal daher, mit einem einladend harmlosen Umschlagmotiv von heiterer Anmutung: Meer, Strand, Sommer. Und doch ist dieser Roman nicht ohne die jüdische Tradition, ohne jüdische Geschichte und Erzählungen, ohne jüdische Besonderheiten wie das Familienleben und ohne das Gegenwartsleben in Israel verständlich (bestimmte Begriffe entschlüsselt dankenswerterweise ein Glossar). Auch wenn es sich um einen Beziehungsroman handelt, um einen Familienroman. Doch im Unterschied zu diesem seit mehr als zehn Jahren eine unverhoffte Renaissance erfahrenden Genre wird hier nicht der Zerfall einer Familienzelle geschildert, kein dysfunktionales Zusammenhausen im Trailerpark oder ein seelisches Zerfleischen à la Strindberg in materiell saturierten Luxusquartieren. Die Familie ist bereits aufgelöst, der Mann, Nimrod, verschwunden, spurlos. Zwischen zwei Jahren pendelt die Handlung hin und her, zwischen 2009 und 1999.

Ende des vergangenen Jahrhunderts kommt Emily, die sich Amy nennt, eine jüdische, weitgehend vernachlässigte Tochter zweier reichlich egozentrischer Künstler, nach Israel, ein erstes Sprachenstudium hatte sie in England abgebrochen, ein halbes Jahr zu Hause verbracht, die Inaktivität nur dadurch unterbrochen, dass sie ihr Zimmer um- und neu dekorierte. Was ihren Maler-Vater darauf brachte, ihr mittels Beziehungen die Bewerbung für einen Studienplatz für Innenarchitektur an der renommierten Designfachhochschule im israelischen Ramat Gan zu verschaffen. Doch ihr Onkel kann sie am Flughafen von Tel Aviv nicht abholen, was eine folgenschwere Kette an Begegnungen auslöst. Das Studium schiebt sie auf die lange Bank, freundet sich mit einem im Gegensatz zu ihr extrovertierten Psychologiestudenten an, der häufig Unbekannte in Not zum Essen zu sich einlädt, und verliebt sich schließlich in Nimrod. Sie heiraten, bekommen eine Tochter, Sharona. Und dann zerbricht die Ehe, da Nimrod nach seinem Examen verkündet, nach Indien gehen zu wollen, um ein Anlauf- und soziales Unterstützungshaus für Israelis in Not oder mit Süchten auf dem Subkontinent zu eröffnen und zu leiten. Amy verweigert sich diesem Ansinnen und seinem Plan, sie bleibt mit der kleinen Tochter in Jerusalem wohnen. Und erfährt dann, dass Nimrod bei einer im Nachhinein recht überflüssigen Suche nach zwei israelischen Rucksacktouristinnen, die eigentlich nie in Gefahr waren, bei einem Unwetter im Gebirge spurlos verschwunden ist. Zehn Jahre später lebt sie, immer noch elementar erschüttert, im großen Haus ihrer Eltern, welche mittlerweile nach Long Island übersiedelt sind, in London (wo sie eine „Life-Style-Gallery“ mitleitet), mit ihrer Tochter, die dort zur Schule geht, und ihrer unverheirateten Tante. Sharona hängt wegen Fotografien, die sie von ihrem Vater sah, dem Glauben an, Nimrod sei bei einer militärischen Geheimaktion ums Leben gekommen, also ein Held.

Nach und nach zieht die 1968 geborene Schulamit Meixner, die in Wien Judaistik studierte, im dortigen Jüdischen Museum sowie in der Erwachsenenbildung tätig war und heute mit ihrer Familie in London lebt, Schicht für Schicht von den Seelen und Herzen in ihrem glanzvollen Prosadebüt ab. Hervor kommen Einsamkeit, existenzielle Vereinzelung, die Präsenz der Trauer, die keinerlei festen Grund hat, und die Absenz von Menschen. Denn der geliebte Mensch hat sich ja losgesagt, hat die Nahbeziehung unterbrochen zugunsten der Sorge um ihm unbekannte Andere, Fernstehende, Flüchtige; und ist verschwunden, ohne dass die Trauer einen fixen Bezugspunkt finden kann, weil auch die Leiche nie aufgetaucht ist.

Es ist überaus bemerkenswert, mit welch sicherer Hand, genauer Personenzeichnung und lebendigen Dialogen Meixner diese subtile Gespinsttonlage dramaturgisch geschickt bis zum Ende durchhält und wie sie auf den letzten zwanzig Seiten noch subtile Korrekturen als Konterbande anbringt, die vieles in ganz neuem Licht zeigen und erhellen, so beispielsweise die jedem Kapitel vorangestellten enigmatischen meteorologischen Angaben, die ihre Auflösung erst auf der allerletzten Seite erfahren. Postwendend ist eine zweite Lektüre dieses bemerkenswerten Romans nicht nur angeraten, sondern sehr zu empfehlen, um besonders auf das reizvolle Spiel mit Motiven und erzählerischen Kreuz- und Querspiegelungen zu achten.

Schulamit Meixner ohnegrund
Roman.
Wien: Picus, 2012.
192 S.; geb.
ISBN 978-3-85452-681-0.

Rezension vom 26.03.2012

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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