#Prosa

Ohne Lesen wäre das Leben ein Irrtum

Cornelius Hell

// Rezension von Beatrice Simonsen

„Kann man Ihre wunderbar tröstlichen Morgengedanken irgendwo nachlesen?“, fragte Friederike Mayröcker und war damit vielleicht die Auslöserin für die Herausgabe der Sammlung von dreißig literarischen Lesebiographien, die Cornelius Hell für die Ö1 – ORF Sendereihe „Gedanken für den Tag“ verfasst hat. Eine schöne Anregung, die sich gelohnt hat. Denn auch im Lesen vermittelt sich die knappe Intensität der ursprünglichen „Morgengedanken“, die die ZuhörerInnen zur Innerlichkeit aufrufen, bevor sie von der Hektik des Tages aufgesogen werden. Die Besonderheit dieser speziellen Morgengabe ist Hells reicher Wissensschatz, aus dem er scheinbar unendlich schöpft.

Cornelius Hell, geboren 1956 in Salzburg, lebt als Autor, Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Litauischen in Wien. Seine Kritiken hören wir bei „Ex libris“ auf Ö1 ebenso wie wir sie in den Tageszeitungen „Die Presse“ oder „Der Standard“ nachlesen können. Er verfasste Publikationen zum Beispiel über E. M. Cioran oder Thomas Bernhard – Autoren, die nun auch Eingang in diesen Sammelband gefunden haben. Aus der intensiven Beschäftigung mit einer Vielzahl von DenkerInnen und AutorInnen hat Cornelius Hell dreißig Essays herausgefiltert, die, in kurze Abschnitte unterteilt, jeweils für eine morgendliche Sendung dienten und daher so gebaut sind,, dass jeweils ein wesentlicher Gedanke im Zentrum steht.
Der Titel „Ohne Lesen wäre das Leben ein Irrtum“ ist eine Abwandlung eines Nietzsche-Zitats – der eigentlich die Musik statt des Lesens meinte. Nun ist aber die Liebe des Autors ganz beim Lesen und wird von unstillbarer Neugier und Faszination für die Kraft des Wortes getragen. Es sind einzelne Sätze in einem Buch, an denen er sich – wie er sagt – „festliest“ und die ihn so lange „bewohnen“ bis er sie „aus seinem eigenen Denken und Empfinden nicht mehr heraushalten kann“. Erst dann beginnt die Beschäftigung mit der Biographie, der Interpretation, dem germanistischen Handwerkszeug. Weil er aber nie vergisst, uns seine Empathie mitzuteilen, haben die Essays diese besondere Note der Innigkeit: „Ich würde keine der Gedichtzeilen (Anm.: von Georg Trakl) hergeben, die mir seit Jahrzehnten durch den Kopf spuken und mit denen ich noch nie an ein Ende gekommen bin.“ Vielleicht gelingt ihm dies so spannend, weil er das fremde Werkschaffen immer wieder auch mit seinen eigenen Lebenserfahrungen in Beziehung bringt, erzählt, warum ihm der eine oder andere Satz besonders nahe geht. Dennoch verliert er dabei nicht die kritische Wachheit: man muss die Sätze nicht „glauben“, sondern kann sie anzweifeln und befragen, so lange bis sie wirklich standhalten und auf das eigene Leben übertragbar werden.

Angefangen vom 13. Jahrhundert mit Meister Eckhart arbeitet sich der studierte Theologe und Germanist langsam durch die Jahrhunderte, verweilt unter anderem bei Abraham a Sancta Clara, bei Georg Büchner, bei Gerhart Hauptmann, Christine Busta und schließt mit dem Werk von Elfriede Gerstl. Seine besondere Kenntnis der osteuropäischen Literaturen bereichert diese Essaysammlung um hierzulande eher weniger gelesenen Autoren wie den französisch-rumänischen Denker E. M. Cioran oder den polnischen Literaturnobelpreisträger Czes?aw Mi?osz. Überhaupt macht die Generation des Zweiten Weltkriegs den Schwerpunkt der Biographien aus. Die vorauseilenden Schatten des Nationalsozialismus und die weitreichenden Nachwirkungen umfassen fast ein ganzes Jahrhundert. Niemanden gab es, der sich entziehen konnte, der nicht davon geprägt war – als Mitläufer, als Überzeugter, als Gegner, als Opfer, als Reumütiger – als Gezeichneter in jedem Fall. Und Cornelius Hell geht jeder einzelnen Spur sehr genau nach und wahrt den offenen Blick, hat sich „die Formel“ eingeschrieben, „in keinem Glauben Ruhe zu finden“ – eine Maxime, zu lesen bei E. M. Cioran. Warum dieser ihm trotz seiner Parteinahme für den Nationalsozialismus wichtig geworden ist, kommentiert Cornelius Hell so: „Weil Cioran etliche meiner Selbstverständlichkeiten und Gewissheiten unterminiert hat, weil er gegen jedwede philosophische, religiöse oder politische Überzeugung das Irritierende an Welt und Geschichte mobilisiert.“

Den Aspekt der Religiosität, der die „Gedanken für den Tag“ ausrichtet, bringt der Autor durch seine Befragung der großen Geister nach ihren christlichen Werten ein, wie sie sich in der Welt eingerichtet und wie sie es mit ihrem Glauben an Gott gehalten haben. Auch hier entwickelt Cornelius Hell ein starkes Gespür für eine „lebens-wichtige“ Frage: Woraus schöpft der Mensch, wenn er denkt, wenn er schreibt und wenn er als Beispiel an Geisteskraft dienen will?

Cornelius Hell Ohne Lesen wäre das Leben ein Irrtum
Lesebiografien.
Wien: Sonderzahl, 2019.
232 S.; brosch.
ISBN 978 3 85449 523 9.

Rezension vom 23.05.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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