#Roman

O. M.

Florian Gantner

// Rezension von Spunk Seipel

Eine kleine undeutbare Notiz, eine nebensächliche Bemerkung in einem Brief, ein vergessenes Familienmitglied – diese geheimnisvollen Details in den Biographien berühmter Autoren erregen bei vielen Menschen die Fantasie. Zuweilen beschäftigen sich Generationen von Forschern mit einem kurzen Satz in einem Brief, der vielleicht erklärt, warum Marcel Proust sich von der Gesellschaft vollkommen zurückzog oder Jane Austen nie geheiratet hat. Doch trotz aller Deutungsversuche und Forschungsarbeiten, das Leben der Dichter bleibt zuweilen ein Rätsel und nie wird restlos geklärt werden können, woher sie ihre Inspirationen hatten.

Auch der erfolglose Schriftsteller Gregor Reichelt ist dermaßen von diesen „Nebensächlichkeiten“ in den Biographien seiner schriftstellerischen Vorbilder gefesselt, dass er sich auf eine literarische Spurensuche nach Frankreich und England aufmacht. Im Stil der Autoren versinkt er in fiktive Geschichten, beginnend 1745 mit einer erfundenen Begegnung von Jean-Jacques Rousseau und seinem in der offiziellen Biographie fast vergessenen Bruder Francois. Gregor Reichelt entwickelt eine intensive Dreiecksgeschichte zwischen den Brüdern und der Geliebten von Jean-Jacques, die endlich das große Rätsel lösen soll, warum Jean-Jacques Rousseau seine Kinder nach ihrer Geburt ins Waisenhaus steckte, was damals ihren fast sicheren Tod bedeutete.
Zugleich baut er damit eine bislang unbekannte, über Generationen und Länder reichende Dynastie von Literaten auf, die zu Stichwortgebern wurden, zu den größten Romanen der europäischen Kulturgeschichte inspirierten, diese redigierten oder gar selber schrieben. Nur damit ein bekannterer Schriftsteller, wie zum Beispiel Charles Dickens, diese Texte an sich reißen und als eigene Werke herausgeben konnte. Es sind die Lakaien, Freunde und Frauen im Hintergrund, die die wahren Genies sind.

Florian Gantner lässt sein Alter Ego Gregor Reichelt auf der Suche nach Erkenntnis durch Literaturmuseen streichen und vermeintlich authentische Schauplätze der Literaturgeschichte aufsuchen. Er entlarvt dabei die Leere der konservierten Orte, die falschen Geschichten hinter vermeintlich echten Dingen und ihre Belanglosigkeit. Vor allem offenbart er dabei aber seinen eigenen Snobismus, den er mit so vielen Künstlern teilt. Überheblichkeit gegenüber Touristen und dem Museumspersonal sind an der Tagesordnung. Aus Arroganz entwickelt sich dabei im Lauf des Romans ein Humor, der den Mut hat, sich über sich selbst lustig zu machen. Ist das Forschen über die nebensächlichsten Details einer Autorenbiografie nicht eher das Scheitern am wirklichen Leben und der Kunst?
Denn um die eigene Kreativität und wie sie zustande kommt, darum geht es Gantner in seinem Buch O. M. Sein Opus Magnum, nichts weniger will Gregor Reichelt nun schon seit Jahren schaffen und hat doch nicht viel mehr getan als in den Biographien berühmter Autoren zu lesen und seiner Kleinfamilie auf der Tasche zu liegen. Das Prekäre seiner Situation entschuldigt er allerdings fortlaufend mit den ebenfalls oft prekären Biographien seiner Vorbilder. Auch hier karikiert Gantner all die Künstler, denen der Lebensstil der Boheme wichtiger als das eigentliche künstlerische Schaffen ist auf so elegante Art, wie man sie nur selten liest.
Doch wenn man sich mit den Größten misst, ist der Druck entsprechend groß. Kein Wunder also, dass Gregor Reichelt Geschichten von Meisterwerken erzählen will, die eigentlich von Lakaien und einfachen Menschen geschrieben worden sind. So entsteht eine Ahnenfolge von unbekannten Genies, ohne die die europäische Literatur ganz anders aussehen würde, vom ignorierten Bruder Rousseaus bis hin zum vermeintlich identischen Vater von Thomas Bernhard und Gregor Reichelt, der sich damit auch genealogisch sogleich in die Literaturgeschichte einfügen kann. Sein Freund Aleksej, den er in London kennenlernt, scheint der Einzige zu sein, der ihm diese hanebüchene Geschichte abkauft, die ja einigen der bedeutendsten Schriftsteller letztendlich ihre Leistungen absprechen würde. Oder endet die Suche nach den Geheimnissen, nach den wahren Ideengebern der Literatur vielleicht in Wahnsinn, wie es die letzte Station des Autors in London nahelegt?

Es ist ein Buch, das Lust macht, die alten Klassiker von Gogol, Dostojewski, Sylvia Plath, William Thackerey und Tschechow wieder zur Hand zu nehmen, so lustvoll wird zitiert, nacherzählt und vor allen über die Stärken und Schwächen der Autoren diskutiert ohne dass Gantner je ins Akademische abzudriften droht. Florian Gantner ist mit seinem Gregor Reichelt eine wirklich interessante Figur gelungen, die den Künstler nicht aus dem Alltag heraushebt, sondern die Banalität von Künstlerbiographien offenbart. Humor ist eine der starken Seiten des Autors, der seine Vorbilder bewundert und sich doch über ihre Macken und nicht zuletzt über sich selbst lustig macht. Das Belanglose, das Nebensächliche, Menschen, die die Autoren umgeben, sie werden selten gewürdigt und sind doch entscheidend für das Zustandekommen eines großen Werkes. Die Ironie, die sich in dieser Geschichte entwickelt, zeichnet dieses Buch aus und macht es zum O. M. / Opus Magnum, weil der Held der Geschichte gerade dann scheitert, als er in einem scheinbaren Paradies der Literatur endet.

Florian Gantner O.M.
Roman.
Innsbruck: Edition Laurin, 2018.
376 S.; geb.
ISBN 978-3902866677.

Rezension vom 23.10.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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