#Roman

Nur Blau

Bernhard Aichner

// Rezension von Martina Wunderer

Nur blau. Keine Linien, keine Figuren, nur leuchtende blaue Farbe auf Leinwand. 78×56 Zentimeter, Monochrom ohne Titel. Der Maler heißt Yves Klein. Blau, in der Kunst und Literatur Symbol für das „Geistige“ wie beim Maler Wassily Kandinsky, für die Stille, das Ferne, das Göttliche, für Tiefe, Wahrheit und Weisheit, doch auch für Nachdenklichkeit und Melancholie, Sehnsucht, Ewigkeit und Unendlichkeit.

Nur Blau heißt der neue Roman des Tiroler Fotografen und Schriftstellers Bernhard Aichner, ein melancholischer Roman über Einsamkeit, über Liebe, über das Leben und den Tod. Er erzählt von Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit, von der Angst vor Verletzungen und Zurückweisung. Er erzählt davon in manchmal zarten, stillen, manchmal schreienden, beklemmenden Bildern, in leisen und lauten Szenen von beinahe schmerzender Intimität, ohne den Figuren jedoch zu Leibe zu rücken. Aicher wahrt zu ihnen respektvolle Distanz, er beobachtet sie mit dem Auge des Fotografen wie durch den Sucher einer Kamera, protokolliert genau, doch unaufdringlich. Als souveräner Erzähler gibt er die Fäden der Erzählung nie aus der Hand, doch wie ein Puppenspieler bleibt er stets im Verborgenen, verzichtet auf wertende oder suggestive Erzählerkommentare und zeichnet stattdessen mit feinem Gespür für subtile, doch prägsame Details die Ereignisse auf. Er gibt dem Geschehen sowie seinen Figuren Raum, sich zu entfalten, sich aus den knappen, präzisen Sätzen herauszuschälen und Gestalt anzunehmen. So entfalten sich im sparsamen Protokoll weniger Stunden im Leben dieser so verschiedenen Figuren ganze Lebenserzählungen, Fugen brechen auf, Abgründe werden sichtbar und entbergen die dahinter liegenden Geheimnisse, ohne sie jedoch ganz zu lüften. Vieles bleibt in den sprachlichen Bildern aufgespart, als Leerstelle geborgen zwischen den Zeilen, ungesagt, als Ahnung oder Andeutung belassen, und reicht dadurch weit über die Seiten des Buches hinaus.

Hinter jeder Figur entfaltet sich vor dem Leser eine besondere Lebenswelt, eine individuelle Lebenserzählung, die sich oft in einer kleinen Geste, im Glattstreichen der Falte im Tischtuch vor dem Selbstmord, im unaufhaltsamen nervösen Wippen des Beines unter der zu weiten Hose, im zärtlichen Streicheln der blauen Leinwand zum Ausdruck bringt.
Blaue Farbe auf Leinwand, blaue Farbe auf Jos Händen, auf Moscas Anzug, Nacken, Gesicht. „Ich werde dich blau malen, lachte Jo.“ Jo, ein schöner, junger Künstler, ein wenig verrückt, auf der Suche nach dem leuchtenden Blau Yves Kleins, nach der richtigen Formel, so lange, bis er es findet, das internationale Klein-Blau. Eines Abends, in einer Kneipe, lernt Jo Mosca kennen, den eleganten Literaturkritiker Mosca, und begleitet ihn in seine Wohnung im 32. Stock eines Frankfurter Hochhauses. Es ist der Beginn ihrer Liebe, einer Liebe, in blaue Farbe gekleidet. „Jo tauchte in Blau. Mosca schwamm neben ihm.“ Bis Jo stirbt. Von der Leiter fällt und stirbt, leblos liegen bleibt auf dem weißen Marmor zu Füßen des blauen Monochroms, des einzigen Originals unter all den von ihm gefertigten Fälschungen.

Dieses Original aus der ersten Klein-Ausstellung in Mailand wird Olivier, der scheue Müllfahrer, der nach dem Mist anderer Leute stinkt und abends Kunstgeschichte liest, ein Jahr später in München in einer Mülltonne finden, das Bild und Moscas Visitenkarte. Dieses blaue Bild wird ihn nicht nur nach Frankfurt, sondern auch in die Geborgenheit und Wärme von Hertas Umarmung im Bett des Wohnmobils der alten Italienerin Mirella führen, auch sie auf dem Weg nach Frankfurt, um die große Klein-Ausstellung zu sehen. Desjenigen Malers, den ihr Bruder mit der skandalösen Mailänder Ausstellung zu Ruhm gebracht hat und den sie in all den Jahren niemals aufhörte zu lieben. Ihn und seine blauen Bilder.

Anna hingegen hat sich frei gezeichnet von ihrer Liebe, von ihrer Abhängigkeit, von ihrer Angst. „Mit jedem Bild ein Stück weiter weg von ihm.“ Anna will keinen Mann mehr in ihr Leben lassen, sie will allein sein mit ihrem Schmerz. Ihr Körper ist übersäht von Narben, dort, wo Ludwig Zigaretten in ihre Haut gebohrt hatte. Wenn sich Anna nach „Haut und Zunge und Schwanz“ sehnt, nimmt sie Ben mit nach Hause, den Taxifahrer. Bevor er kommt, nimmt sie ihre Zeichnungen von den Wänden, jede einzelne. Er soll mit ihr schlafen, doch reden darf er nicht. Und auch keine Fragen stellen, woher die Narben kommen und warum er nicht bleiben darf, um in ihren Armen für kurze Zeit seine Ängste zu vergessen. Stets auf einer schmalen Spur zwischen Realität und Wahn balancierend fürchtet Ben den Schlaf, die Albträume, die ihn heimsuchen und quälen, sobald er die Augen schließt. Die Grenzen von Wachen und Traum lösen sich immer weiter auf, die Nachtgestalten bemächtigen sich seiner immer mehr und reißen ihn unaufhaltsam in einen Sog der Todesangst und Paranoia, aus dem es kein Entkommen mehr gibt.

Wie Ben steht auch Onni auf der Schattenseite des Lebens. Für den Dänen, der an einer Harninkontinenz leidet, der Windeln unter den zu weiten Hosen tragen muss und niemals mehr eine Frau lieben wird, nehmen die Dinge eine besonders unglückliche Wendung, scheint das Glück auch für einen Moment zum Greifen nah. Denn Ming, die Chinesin mit dem harten Gesicht und dem kahlgeschorenen Kopf, hat schneller zugegriffen als Onni, sie hat beschlossen, wenn nötig, ihrem Glück, das sie sich von einem Leben in Deutschland versprochen hat, ein wenig nachzuhelfen und ihre Mittel sind nicht immer fair.

So entscheiden sich die Schicksale der Figuren in flüchtigen Momenten, in jenem atemlosen Augenblick, den Woody Allens Film „Match Point“ beschreibt, wenn der Tennisball auf der Netzkante tanzt und einen Wimpernschlag lang alle Optionen in der Schwebe hängen: Der Ball fällt nach vorne, du gewinnst. Oder er fällt nach hinten, und du verlierst.
„Es gibt keinen Zufall“, sagt Anna an einer Stelle des Romans. „Es hat nie einen gegeben.“ Aichner verwebt geschickt die einzelnen Lebenslinien der Figuren zu einem poetisch dichten Fadennetz aus Querbezügen, Symmetrien, Spiegelungen und entwirft in der Entwicklung der einzelnen Episoden ein fast bruchloses Erzählgerüst, wobei der Eindruck des Verbundenseins aller Schicksale vor allem stilistisch entsteht.

In ihren Ängsten und Sehnsüchten, in ihrer Verzweiflung und ihrer Freude erscheinen diese Figuren glaubwürdig, authentisch, menschlich, allzu menschlich, sie gehen dem Leser beinahe schmerzhaft nahe. Und so entwickelt dieser poetisch dichte Roman von Anfang an einen Sog, dem sich der Leser nicht zu entziehen vermag, er folgt den einzelnen Erzählungen, den Figuren, auf ihrer Flucht aus Warschau, vor der Perspektivlosigkeit der chinesischen Provinz, vor dem Zugriff des Gesetztes in Dänemark, vor der häuslichen Gewalt des geliebten Partners, vor der Düsternis und Lieblosigkeit der Münchner Erdgeschosswohnung, bis nach Frankfurt, wo sich ihre Wege in kurzen aber intensiven Begegnungen kreuzen und wieder voneinander lösen. Sie alle finden ihren Fluchtpunkt in dem Blau Yves Kleins und in der Photographie seines „Sprungs in die Leere“ aus dem Fenster seines Hauses, in eine fremde, blaue Welt jenseits jeder Begrenzung: „er springt in die Leere, in den leeren Raum, in die Unendlichkeit. Dort ist die Freiheit, sagte Jo. Dort ist das Blau.“

Bernhard Aichner Nur Blau
Roman.
Innsbruck, Bozen, Wien: Skarabaeus, 2006.
220 S.; geb.
ISBN: 3-7082-3200-3.

Rezension vom 26.07.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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