#Sachbuch

„Nun leb wohl! Und hab’s gut!“

Peter Suhrkamp, Annemarie Seidel

// Rezension von Hubert Lengauer

„Man schreibt auch nicht mehr Briefe zwischen Orten, die mit Goldfäden in die ordinäre Geographie dieses Kontinents gestickt sind, druckreif, über die komplizierten Dinge der Kunst, die Bedrückungen durch den Weltenlauf und die Besorgtheit über das Werk, das man vorbereitet“, so hatte Ingeborg Bachmann im „Tagebuch“, ihrer herausragenden politischen Schrift (1963), geklagt und das Ende einer Ära und eines Genres festgestellt, das sie doch selber noch fortsetzen sollte, durch Briefwechsel mit H.M. Enzensberger, Uwe Johnson, Siegfried Unseld und nicht zuletzt mit Max Frisch. Man wird sie in den nächsten Jahren zu lesen bekommen, in der Salzburger (von Hans Höller geleiteten und mit großen Erwartungen belegten) Bachmann-Ausgabe.

Peter Suhrkamps Briefwechsel mit Annemarie Seidel, der „geliebten Mirl“, gehört in diese Kategorie des Briefschreibens, er spielt in der Welt der Hesse, Billinger, Zuckmayer, Carossa, Frisch; er ist einschlägig auch im Sinne der von Ingeborg Bachmann erfahrenen und beschriebenen Erkenntnis, dass die Geschichte im Ich durchschlage, desaströs im Krieg und als lange nachwirkender „Kollateralschaden“ der Nazizeit und der Shoa. Den häufigen Abwesenheiten Annemarie Seidels (auf Sylt, in München, in der Schweiz, in Sanatorien), aber auch der Quellenlage ist die Asymmetrie dieses Briefwechsels zuzuschreiben. Von den 345 veröffentlichten Posten stammen nur 44 von Annemarie Seidel, die meisten davon wurden in der Zeit von Suhrkamps Haft in Gestapo-Gefängnissen und schließlich im KZ Sachsenhausen geschrieben. In gewissem Sinne ist aber dieser Teil des Briefwechsels das „Herzstück“ des Ganzen. Er dokumentiert die politische Situation, die Lage der Literatur und zugleich die Zermürbung und den körperlichen Ruin Suhrkamps.

Peter Suhrkamp (1891-1959) war ab 1932 Mitarbeiter des S. Fischer-Verlags, zuerst als Herausgeber der Neuen Rundschau, ab 1933 im Vorstand. 1936 kaufte er jenen Teil des Verlags, den Gottfried Bermann-Fischer nicht ins Exil (zunächst nach Wien) verlagert hatte. Auf Druck der Nazis erfolgte 1942 die Umbenennung in Suhrkamp-Verlag. Der Verleger wurde am 13. April 1944 verhaftet, unter unklaren Beschuldigungen. Er hatte einen Spitzel und Provokateur nicht denunziert und war mit Wilhelm Ahlmann befreundet, der seinerseits zum Freundeskreis der Verschwörer des 20. Juli 1944 gehörte. Nach Interventionen von (angeblich) Gustav Gründgens, Gerhart Hauptmann (bei Baldur von Schirach) und Hans Carossa (bei Ernst Kaltenbrunner), sicher aber von Arno Breker, Hermann Kasack (Suhrkamps Vertreter im Verlag während der Haft) und Annemarie Seidel (bei Hanns Johst, dem Präsidenten der Reichsschrifttumskammer), kam Suhrkamp am 8. Februar 1945 frei.

Danach dünnt der Briefwechsel sichtlich aus, ist auch geprägt von den Krankheiten beider Schreiber und schließlich von der Trennung seit 1950 (endgültig 1958 als Annemarie Seidel mit dem ehemaligen Suhrkamp-, dann Biederstein-Lektor Friedrich Podszus nach München zog, „schwer leidend schon und dem Alkohol ergeben“, wie die mit ihnen befreundete Ingeborg Schuldt-Britting (Sankt-Anna-Platz 10. München 1999, S. 263) berichtet.

Mit Podszus zusammen hatte AS „Die Grasharfe“ (The Grass Harp, 1951) übersetzt und bei Suhrkamp publiziert. In die Literaturgeschichte war Annemarie, Schwester der im Nationalsozialismus durch ihre Hitler-Verehrung erfolgreichen Ina Seidel, schon durch ihre Liaison mit Carl Zuckmayer 1921/22 eingegangen (erzählt in seinen „Horen der Freundschaft“ Als wär’s ein Stück von mir, 1966/2013, S. 377-408). Aus dieser mühsamen, auch damals schon von Alkohol und Krankheit beeinträchtigten Existenz („Uns genügte der Suff, der bei ihr zu einer luziden Verträumtheit, bei mir fast nie zu einem Kater führte. Ich konnte Alkohol immer vertragen, ich bin ihm treu geblieben, und er hat mir, meines Wissens, bis jetzt nicht geschadet“, Zuckmayer, S. 398) erlöste sie der holländische Millionär und Musikologe Anthony von Hoboken.

Von ihm erbte sie nach der Scheidung 1932 das Haus in Kampen auf Sylt. Annemarie Seidel hielt sich häufig und über lange Zeit dort auf, auch während des Krieges, in dem die Insel schwer bombardiert wurde. Mai 1935 ist der Beginn der Liebes- und Briefgeschichte zwischen Peter Suhrkamp und Annemarie Seidel, Hochzeit war im September. Carl Zuckmayer („Zuck“) bleibt eine Art Freund und Lebensbegleiter, wenngleich nicht unkritisch gesehen („Zuck war unerträglich aufdringlich. Er deckte alles mit seiner fetten Natur“, S. 13). Im Juli 1950 macht Suhrkamp dann erstmals den Vorschlag zur Scheidung: „wir sollten auch die äußere Form der Ehe aufgeben und uns jetzt noch scheiden lassen“ (701); in diesem Brief kommen noch einmal alle Themen und Motive des Briefwechsels zusammen. An erster Stelle steht die Nachricht, dass Fischer den Zuschlag für die Publikation der Werke Kafkas erhalten habe, dann der Einbruch der Erinnerung bei Suhrkamp anlässlich einer Dramatisierung von Kafkas Prozeß („Damit kam meine Situation 44/45 wieder herauf, ich war betroffener als andere. Dazu betrifft das Stück noch die Deutschen allgemein stärker als Menschen irgend eines anderen Volkes“, S. 701), schließlich der Vorschlag zur Auflösung der Ehe. Sie kam jedenfalls juridisch nicht mehr zustande, kurz vor dem Gerichtstermin der Scheidung verstarb Suhrkamp.

Die Ich- und Wir-Geschichte ist zugleich Zeitgeschichte. Die ständige und ständig besorgte Zuwendung Peter Suhrkamps für „Mirl“ gibt den Grundton, darüber lagern sich literarisch ambitionierte Landschafts- und Wetterbeobachtungen (etwa zum Gasteiner Tal im Winter 1941), „Atmosphärisches“ rund um die Olympischen Spiele 1936 und zur Situation in Wien im Juni 1938 („Begrüßt wurde man mit ‚Grüß Gott!’ Hab die Ehre! Heil Hitler!’ Hintereinanderweg. Ich kam zu unserem Auslieferer Herrn Lechner, der mich erstaunt betrachtete: ‚Sie tragen kein Abzeichen? – Sie können sich hier so nicht sehen lassen! Man wird sie anspucken und beschimpfen’“, S. 226), schließlich ausführliche Berichte über die Verlagsarbeit und die Autoren des Verlags. In manchen Phasen schreibt Suhrkamp täglich, dazwischen sind längere Pausen, die auf eine (nicht thematisierte) gemeinsame Zeit schließen lassen. „Ich begleite Dein Tun und Deinen Wandel“, heißt es einmal (S. 142). „Ich lebe mein Leben weiter mit Deiner heimlichen Gegenwart“ (S. 144); „besorgte für Dich zwei Flaschen Arrak, 2 Flaschen Kognak und 1 Flasche Rum“, heißt es im Juni 1938 (S. 234).

1939 ist Suhrkamp wieder in Wien, befremdet und gelangweilt: „Das fremde Element fehlt im Leben der Stadt. Die Italiener und Deutschen bilden keinen Ersatz“ (S. 273). Bezugsperson in Wien war für ihn Otto Erich Deutsch, Literaturwissenschaftler und Musikologe. Die zweibändige Anthologie „Deutscher Geist“, die Suhrkamp gemeinsam mit Oskar Loerke herausgab, sollte den Verlag eine Weile vor dem Zugriff der Nazis schützen. Das Bekenntnis dazu, formuliert 1940, konnte jedoch doppelsinnig verstanden werden. Es sei die Absicht, kündigt der Verlag an, „ein geschlossenes Denkmal dessen zu geben, was deutscher Geist ist, monumental und sichtbar für die übrige Welt, zur Erinnerung, Anregung und Stärkung für die gegenwärtigen Deutschen“ (S. 296). Die damit verbundene Hoffnung, das Werk könnte als offizielles Lesebuch für die „Ordensburgen“, die Schulungszentren der NSDAP, verwendet werden, scheint hingegen eindeutig (S. 328, 1. Oktober 1940). Im gleichen Brief berichtet Suhrkamp über die nächtlichen Bombenangriffe auf Berlin und die Evakuierung von Kindern. Eine Intervention bei Hanns Johst, die Frau von Richard Dehmel vom Tragen des Judensterns auszunehmen, hat Erfolg; der Winterkrieg in Russland wird skeptisch gesehen: „Der Bogen wird überspannt. Das ist gegen alle Natur. Was müssen das für Heerführer sein, die dazu Befehle erteilen! Sie ruinieren ihr großartiges Instrument“ (7. November 1941, S. 390).

In den Widrigkeiten ist Arno Breker, Hitlers Bildhauer (S. 520), verlässlicher Helfer, er kann aber die Inhaftierung am 13. April 1944 nicht verhindern. Peter Suhrkamp wird als Anhänger der „jüdisch-marxistischen Weltanschauung“ identifiziert, der Anteil jüdischer Autoren im Programm und in Rezensionen wird ihm zur Last gelegt. Auch „Mirl“ bleibt im Kriegsgeschehen (das insgesamt wenig kommentiert wird, wohl auch wegen der Zensur) zwiespältig, wenn sie die „nihilistische englische Fliegerhorde“ (30. April 1944, S. 464) verteufelt. Ein Gedicht von ihr, Die Ohnmächtigen (1943), charakterisiert der Herausgeber als „Verortungsversuch zwischen Schuldverstrickung und Opferrolle“ (S. 498).

Im Juni 1944 herrscht „Evakuierungs- und Invasionspanik“ (S. 510) auf Sylt. Die Gefängnisbriefe stehen sichtlich im Schatten der Zensur. Ihre Umschreibungen kritisiert der Zensor als „langatmig und undeutlich“ (S. 565), manches bleibt ambivalent, wie der Blick in die Zukunft, den Peter Suhrkamp am 5. Dezember 1944 aus dem Gestapo-Gefängnis wirft: “wie der gegenwärtige Krieg immer ausgeht – wir werden auf jeden Fall die Sieger sein. Die Jugend der Welt und wer sonst noch in der Welt Phantasie hat, wird bezwungen und hingerissen sein von den sagenhaften männlichen und menschlichen Leistungen, von der Geistigkeit, die dahinter steht […] Die Soldaten und Arbeiter (was immer mehr dasselbe sein wird) werden herrschen, ihre Massen werden Subjekt und Objekt der Politik sein, und Organisation und Technik werden die Methoden bilden“ (s. 606f.). Der Krieg als „technoromantisches Abenteuer“, wie ihn Kraus gekennzeichnet hat, kehrt hier wieder, allerdings für Alle Tage, auch die der Friedenszeiten. Solche Stellen machen Mühe. Vielleicht, so hofft man, waren sie bestimmt, Wärter und Zensoren milde zu stimmen, denn mit der Einstellung des Verfahrens am 19. Oktober 1944 war für Suhrkamp die Haft noch nicht zu Ende.

Auch die Publikationsgeschichte des Briefwechsels ist durch die Briefe aus Peter Suhrkamps Haftzeit geprägt. Ein erster Versuch (1973) scheitert an der Scheu des Verlags (Siegfried Unselds), begleitende Dokumente, die mit „Peter Suhrkamp/S. Fischer Verlag/Heil Hitler!“ unterschrieben sind zu publizieren, „also sich enormen Ambivalenzen auszusetzen“ (S. 813). 2009, als der Verlag die Publikation schon angekündigt hatte, kamen die Briefe Annemarie Seidls ans Tageslicht und die Publikation musste verschoben werden. Sieben Jahre später nun erscheint das knapp 850 Seiten starke Werk, der 125. Geburtstag Peter Suhrkamps am 28. März 2016 war das im Verlagskalkül anvisierte Ziel. Das Warten hat sich gelohnt. Ergebnis ist eine große, Respekt und Anerkennung verdienende editorische Leistung, den großen Briefwechsel-Editionen des Verlags ebenbürtig, ja diese an Genauigkeit der Kommentierung vielfach übertreffend. Der Herausgeber Wolfgang Schopf will damit, wie er bescheiden vermerkt, keine Verlagsgeschichte schreiben, aber er eröffnet einen ganz spezifischen, persönlichen Zugang zu ihr.

Von den Unsicherheiten bezüglich des Exils des Fischer-Verlags, von den Begehrlichkeiten von NS-Verlagen für den „tragbaren“ Teil des Verlags, über Zwang und Rücksichtnahmen in der Nazizeit bis zur Ablösung von Fischer in der Nachkriegszeit geht diese hier erschließbare Geschichte. Gerade durch den ausführlichen (Fußnoten-) Kommentarteil wird diese verlagsgeschichtliche Leistung erbracht und ist als Ergänzung (etwa) zur großen Darstellung Peter de Mendelssohns (S. Fischer und sein Verlag, 1970) oder Irene Nawrockas Buch über den Bermann-Fischer Verlag im Exil (2000) zu lesen. Die Exilierung des S. Fischer-Verlags, die Weiterführung und schließlich Umbenennung seines Berliner Teils, schließlich die Trennung der Verlage und der Neuansatz Peter Suhrkamps (1950) mit Schweizer Finanzhilfe (die sich noch weit hinein in die Geschichte des Suhrkamp-Verlags auswirken sollte) sind die historisch bemerkenswerten Stadien dieses Prozesses.

Mit Siegfried Unselds Bewerbung bei Suhrkamp – auf Anraten Hermann Hesses – am 22. Oktober 1951 beginnt eine neue Ära, Unselds „Lebenswerk für den Verlag setzte am 7. Januar 1952 ein“, schreibt der Herausgeber (738). Unseld („der Große Siegfried“ bei Bachmann) wird das „Erbe“ nicht nur verwalten, sondern beträchtlich vermehren, ideell wie materiell. Dabei konnte er auf einen Stock bedeutender Schriftsteller aufbauen, allen voran Hermann Hesse.

Nach dem Krieg spricht Suhrkamp in englischen Repatriierungslagern für Kriegsgefangene über die Zustände in Deutschland. Mit den Literaturnobelpreisträgern Hesse (1946) und T.S. Eliot (1949) hat er starke Assets im Programm, die er in die Neugründung des Verlags am 1. Juli 1950 einbringt. Von 48 Autoren votieren 33 für Suhrkamp (darunter auch Bertolt Brecht, Max Frisch, G.B. Shaw), die anderen bleiben bei Fischer (darunter Thomas Mann, Joseph Conrad, von früher her Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, dazu kamen Sigmund Freud, Stefan Zweig, u.a.; Mendelssohn, S. 1330). Nach einer langen Zeit „unsteten Aufenthalts“, einem Leben in Pensionen und Untermieten, schließlich stabilisiert in Königstein/Ts., stirbt Peter Suhrkamp am 31. März 1959, Annemarie Seidel folgt ihm wenige Monate später nach.

Peter Suhrkamp, Annemarie Seidel „Nun leb wohl! Und hab’s gut!“
Hg.: Wolfgang Schopf.
Briefe 1935-1959.
Berlin: Suhrkamp, 2016.
847 S.; geb.
ISBN 978-3-518-42071-3.

Rezension vom 27.06.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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