#Roman

Nordlicht

Melitta Breznik

// Rezension von Claudia Peer

Dies ist ein Roman über die Stille und die Weite Nordnorwegens. Ein Roman über zwei autarke Frauen, die ihr Leben selbst bestimmen und dafür Entbehrungen auf sich nehmen. Darüber hinaus ist es die Geschichte zweier Frauen auf der Suche nach ihren Wurzeln.

Dabei stoßen sie auf die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, auf die Psychiatrie im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, auf Demütigung und Traumata. Themen, die die Autorin, welche als Psychiaterin in Graubünden tätig ist, schon seit längerem fesseln. In ihrer 2002 erschienenen Erzählung Das Umstellformat begibt sich die Ich-Erzählerin, von Beruf ebenfalls Psychiaterin, mit ihrer Mutter auf die Suche nach dem letzten Aufenthaltsort der Großmutter. An Schizophrenie erkrankt, verschwand diese in der Nazi-Zeit wegen angeblichem Herzversagen für immer in einer psychiatrischen Klinik.

Nordlicht handelt ebenso von einer anfangs in Zürich lebenden Psychiaterin – Anna Berghofer. Sie hat Angst davor, wie ihre Großmutter schizophren zu werden, hört Stimmen und erträgt den Alltag mit ihrem schweigsamen Mann nicht mehr, der für uns namenlos bleibt. Erst viel später wird ihr bewusst, dass jahrelange Erschöpfung aufgrund der anstrengenden Arbeit Auslöser für die Sinnestäuschungen war. Niemand ist die Ausnahme. Niemand ist gefeit.
Von einem Moment auf den anderen verlässt sie die Wohnung und ihren Mann. Beschäftigt mit der Auflösung seiner Firma, nimmt er sie schon lange nicht mehr wahr. Anna hingegen ist ein Mensch, der offenen Auges durchs Leben geht und vieles ertragen kann, Oberflächlichkeit nicht. Der Schritt zur nächsten Frau dauert bei diesem Mann nicht lange. Einige Monate später beschließt sie nach Norwegen zu reisen, wo sie den kalten, dunklen Winter allein verbringen möchte, um sich in dieser Stille und Einsamkeit wieder zu finden. Zugleich ist diese Reise eine Spurensuche nach ihrem Vater, der dort im Zweiten Weltkrieg als Soldat stationiert war. Anhand seiner Notizbücher aus dieser Zeit spürt sie Orte, Plätze und Häuser auf, die dieser gesehen und bewohnt hat. Über ein halbes Jahr lang verbringt Anna die dunklen Tage und Nächte allein in ihrer gemieteten Hütte oder auf Spaziergängen auf den Lofoten. Es ist atemberaubend, wie es Melitta Breznik gelingt, dass man beim Lesen die imposanten Landschaftsbeschreibungen Nordnorwegens nicht als störendes Beiwerk betrachtet, sondern sie als immer wiederkehrenden, beruhigenden, verlangsamenden Genuss wahrnimmt. Über die Form geht der Inhalt auf die lesende Person über, ohne sich aufzudrängen.

Gerade diese sprachliche Souveränität, ihre einfache, unaufdringliche, aber konsequente Direktheit ist es, die Melitta Breznik auszeichnet. Zugleich zeigt die Autorin einen eigenwilligen Umgang mit der Zeitfolge, der es ihr auf einfache Weise erlaubt, parallele Erzählstränge zu führen, welche komplizierte Rückblenden und somit formalen Ballast verhindern. So wechselt man im ersten Teil zwischen Zürich und den Lofoten, zwischen damals und jetzt, zwischen Präteritum und Präsens. Eine Aufarbeitung der Beziehung zu ihrem Mann findet statt. Fernab von Abrechnung, Schlammschlachten und Gemeinheiten. Vielmehr erfährt man von der Schönheit der Annäherung der beiden in der Studienzeit, das naive Übersehen von Ungereimtheiten damals, die Aufgeregtheit durch die Aufbruchsstimmung hinein ins Leben. Gefestigt und gestärkt, taucht die Ich-Erzählerin wieder aus ihrer Abgeschiedenheit hervor in die nächstgelegene Stadt, um sich wieder unter Menschen zu begeben und neue Beziehungen zu knüpfen. Dadurch gelingt es ihr auch, mehr über die weiter zurück liegende Vergangenheit, die Jugendzeit ihres Vaters, zu erfahren, wobei ihr der Bibliothekar Rune behilflich ist.

Eine große Freundschaft steht im Mittelpunkt des zweiten Teils. Giske Norman lädt Anna ein, mit ihr in ihrem großen, alten Haus zu leben. Nach und nach erfährt man, dass es sich hierbei auch um eine Annäherung verschiedener Fronten handelt: das Täter-Kind und das Opfer-Kind – beide erlebten eine schweigsame Kindheit. Ohne Anprangerung und Hass erfahren wir die Geschichte der kleinen Giske – manchmal als neue Ich-Erzählerin, manchmal im Präsens – die mit einem Jahr ihrer Mutter entrissen wurde, weil sie ein „Deutschenbastard“ war. Ihre Mutter stand zu ihrem Geliebten und musste dafür bitter büßen, indem sie später rechtlos wie eine Magd am Hof ihrer Eltern arbeiten musste, den der Bruder übernommen hatte. Der steirische Besatzer war weg und kam nie wieder. Das harte Leben bei den Pflegeeltern, das Abgeschobenwerden in ein strenges Kinderheim und schließlich in eine psychiatrische Klinik konnten das Kind nicht brechen. Dank ihrer Adoptiveltern, zu welchen sie mit 14 kam, wurde aus dem ängstlichen Kind eine starke Frau und Journalistin, die nach 50 Jahren erstmals ihre Mutter wieder sah. Mit der Hilfe des Hausarztes Peer Haugland – der für die beiden Frauen noch eine wichtige Rolle einnehmen wird – begleitete sie ihre Mutter im Sterben. In diesem Haus lebt sie nun, die einst Vertriebene, mit Anna, die theoretisch ihre Schwester sein könnte – bis diese einen Entschluss fasst.

Melitta Breznik ist ein ruhiger, besonnener und stilsicherer Roman geglückt, in welchem einfühlsam und zugleich sachlich über leidvolle Themen, Naturschönheiten, Freundschaft und Nachkriegszeit erzählt wird.

Melitta Breznik Nordlicht
Roman.
München: Luchterhand, 2009.
256 S.; geb.
ISBN 978-3-630-87287-2.

Rezension vom 20.05.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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