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Nora. Ein Tanz

Friederike Schwab

// Rezension von Ursula Ebel

Eine letzte gemeinsame Reise

Reale und literarische Frauenfiguren und mehrere Zeitebenen durchziehen den neuen Roman Friederike Schwabs. Kunstvoll verwebt sie dabei Erinnerung, Rätselhaftes und literarische Stoffe und weicht die Grenzen von Fiktion und Realität zunehmend auf. Welchen Stellenwert können literarische Stoffe im eigenen Leben einnehmen, wie prägen sie die Wahrnehmung sowie das Zusammenleben mit anderen, wenn sie in eigenen Gedanken stets präsent sind?

In Rückblenden erzählt der neue Roman der Grazer Autorin und Künstlerin die Lebensgeschichte der über 70 Jahre alten Kostümbildnerin Sophie. Nach dem für sie unerklärlichen Verlust ihrer Ziehtochter Evelyn hat sie sich vollkommen ihrer beruflichen Tätigkeit verschrieben und arbeitet erfolgreich an großen Theater- und Opernhäusern sowie an eigenen Vernissagen. Zu Romanbeginn erfolgt auf eine Schaffenspause wieder ein interessanter Auftrag einer Tanzgruppe unter der Leitung von Lyn. Zwischen ihrem Fundus über Jahrzehnte geschaffener Kostüme näht Sophie fortan nächtelang an dem neuen Auftragsstück. Die Figuren sind Sophie wichtige Vertraute, für die sie Gewänder mit ebenso intensiver Zugewandtheit anfertigt wie einst für ihre Ziehtochter.

Schwesternschaft und andere Familienkonstellationen

„Schwören wir uns Schwesternschaft“, hatte Evelyn als Kind zu Sophie gesagt. „Du weißt schon, mit Blut und ganz ernst.“ (219) Ihre eigene Mutter ist oft nicht zuhause, deshalb ist das Kind bei Sophie und ihrem Mann Max gut aufgehoben und wächst in deren Wohnung auf. Als Evelyn im Teenageralter ist, bricht die Familie zu einer langersehnten Reise nach Triest auf. Von der Piazza dell’Unità d’Italia blicken sie aufs Meer und Sophie verkündet: „Für mich ist es der schönste Platz der Welt.“ (149) Die Familie umarmt sich, und dennoch gerät die Reise zum fatalen Fiasko, denn Evelyn verschwindet spurlos. Nach diesem Verlust folgt eine weitere Erschütterung in Sophies Leben, die Scheidung von ihrem Ehemann Max. Auch er gibt vor, dem Schmerz um die rätselhafte Abwesenheit der Ziehtochter nicht gewachsen zu sein – doch der/die Leser*in hat tiefere Einblicke in die Abläufe. Denn eine Stärke von Nora. Ein Tanz liegt in der formalen Komposition des Romans, er gliedert sich in mehrere Kapitel, die jeweils eng an die Perspektive einer der Hauptprotagonistinnen angelehnt sind. Ein Kapitel aus Evelyns Perspektive beginnt mit folgenden Zeilen: „Nichts ist vergessen. Nicht die Flucht vor Max, nicht die Wut auf Sophie. (…) Nicht, wie ihr Max beim Schritt aus dem Hotelzimmer den Mantel um die Schultern gelegt hatte. Wie seine Hände von hinten hastig unter den Mantel griffen, ihre Brüste umfassten.“ (188) Schwab thematisiert die tiefgreifenden Folgen von sexuellem Missbrauch auf ernsthafte und empathische Weise und macht deutlich, wie leicht dieser auch in intakten Familien unbemerkt stattfinden kann.

Konstante Begleiterinnen

Alles kreist in Schwabs Roman um Verlust und Nähe, inneren Widerstand und Rebellion, die Suche nach Glück und Zugehörigkeit sowie den Wunsch nach Selbstbestimmung. Kritisch setzt sich die Autorin mit patriarchalen gesellschaftlichen Strukturen auseinander und versucht, über mehrere Generationen hinweg die unmittelbaren Auswirkungen ebendieser auf Lebensentwürfe von Frauen unterschiedlichen Alters offenzulegen. Berührend sind etwa die Passagen über Sophies Großmutter: „Versteh doch! Geliebt? Wie das klingt. Verärgert murrt Sophie: Ich sehe die Großmutter die Straße queren, sie nimmt mich an der Hand, derb und fest, sie riecht wie ihre Schürze nach Essen, das sie gerade kocht oder bereits gekocht hat, und mir ist eklig im Magen. Es ist nicht alles angenehm.“ (85)

Als konstante Begleiterinnen in der Einsamkeit des Alters fungieren für Sophie literarische Figuren wie Undine aus Undine geht von Ingeborg Bachmann, wie Nora aus Nora oder ein Puppenheim von Henrik Ibsen oder wie die Mutter Courage im gleichnamigen Theaterstück von Bertolt Brecht. Literarische Figuren und Stoffe sind jedoch nicht nur Lebensbegleiterinnen, sondern sie verquicken sich teils mit der Realität, etwa wenn Sophie in allen Frauen eine Nora entdecken möchte (Vgl. Leseprobe). Schwab verwebt geliebte reale und literarische Frauenfiguren und erschüttert auf diese Weise eingeschliffene Wahrnehmungsformen ihrer Leser*innen. Diese Literatur verhandelt die derzeit aktuelle Thematik um die Systemrelevanz von Kunst und Kultur auf eindringliche und zugleich subtile Weise.

Nora. Ein Tanz.
Roman.
Graz: Edition Keiper, 2021.
232 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-903322-32-5.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 28.06.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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