#Roman

Nobot. Twitter Noir

Jürgen Berlakovich

// Rezension von Marcus Neuert

Können Diskurse echte Diskurse sein, solange sie in lediglich 140 (oder seit 2016 immerhin 280) Zeichen geführt werden müssen? Oder ist Twitter nicht eher ein Zeitgeistmedium, welches in seiner Verkürzung Ignoranz, Dummheit und einem fortschreitenden Empörungskult Vorschub leistet? Den geringen Umfang so kreativ zu nutzen, dass die Plattform eine Daseinsberechtigung daraus ziehen könnte, scheint die rhetorischen Möglichkeiten Vieler zu übersteigen. Vielmehr findet häufig eine Ritualisierung aus Zuschreibung, Anklage, Verurteilung und medialer Hinrichtung statt. Es ist eben so, wie Montaigne es ausdrückte (der sicher einer der besten Zwitscherer gewesen wäre):

Wir sind nichts als Zeremonien; und die Zeremonie reißt uns hin, dass wir das Wesen der Dinge nicht betrachten.

Nicht von ungefähr hat der Musiker und Autor Jürgen Berlakovich Anfang März 2022 einem Essay zum Thema der sozialen Medien im „Standard“ dieses Zitat vorangestellt.
Sein neuestes Werk Nobot. Twitter Noir schließt nahtlos an dieses Sujet an. Der nur knapp 120 Seiten lange Text handelt von einer namenlosen Genforscherin, die sich in einem intriganten Spiel aus neurechter Politik, Inkompetenz und Korruption wiederfindet, die Mitschuld an einem Laborunfall in die Schuhe geschoben bekommt und außer Landes fliehen muss. Sieben Jahre nach diesem Vorfall, den die Öffentlichkeit bald vergessen hat, hat sie sich augenscheinlich in den Gedanken hineingesteigert, dass ihre korrupten Vorgesetzten und Kollegen Reisegger und Dorsch damals möglicherweise durch verbrecherische Genexperimente an Moskitos eine Art kollektiven Wahnsinn auf die Bevölkerung losgelassen haben, eine „realitätsverzerrende Bewusstseinsmanipulation, die wir nicht nachweisen können“, was sie nicht zuletzt auch an der wahrnehmbaren Verrohung der sozialen Medien festmacht, derer sie sich jedoch letztendlich selbst bedient, um sich aus ihrer Isolation zu befreien:

Seit Jahren kocht eine riesige Wut in mir hoch und ich habe beschlossen, hier und jetzt mit dieser Niederschrift ein für alle Mal die Altlasten meiner Erinnerungen und Vermutungen, die mich seit Jahren quälen, endlich loszuwerden.

Dabei klingt ihre populärwissenschaftlich, aber zunächst durchaus plausibel dargestellte These nicht ganz so verschwörungstheoretisch, wie sich das zur reinen Inhaltsangabe verkürzt anhören mag – man hat anfangs eher den Eindruck, einfach einen fiktionalen dystopischen Text zu lesen.
Durch die endlosen Schmähtiraden der Protagonistin gegen die vermeintlich verdummten Massen und den „geistzersetzenden Unsinn […] auf diesen Plattformen“ vor allem im zweiten Teil des Buches stellt sich allmählich jedoch der Eindruck ein, dass diese namenlose Ich-Erzählerin selbst von der befürchteten genetischen Veränderung befallen wurde: sie mutiert immer offensichtlicher zu einer klassischen unzuverlässigen Erzählerin, die sich in klaren Momenten durchaus selbst hinterfragt, aber ihren Weltekel derart redundant auf das Lesepublikum herniederprasseln lässt, dass man sich innerlich immer mehr von ihr distanziert. Sie wettert einerseits gegen Querdenkertum, andererseits gegen die gekaufte Wissenschaft, ist also keinem „Lager“ eindeutig zuzuordnen und verwebt die von ihr abgesetzten Tweets zu einer verachtungsvollen Suada gegen sich selbst und die Gesellschaft.
Dennoch wirft dieses medial inszenierte Selbstgespräch (denn darum handelt es sich letztendlich) in durchaus essayistischer Schärfe Schlagschatten auf das eigene lesende Ich, den eigenen Umgang mit medialer Verantwortung, aus dem ein kompletter Rückzug denkbar, aber unangemessen wäre:

Aufhören zu sprechen. Aufhören zu schreiben, denke ich mir immer wieder. Doch das führte schlussendlich zur totalen Selbstaufgabe. Und damit würde ich die Zumutungen dieser Welt einfach unhinterfragt hinnehmen, annehmen, gewähren lassen, Teil von ihr werden und würdelos sterben.

Vielleicht wäre ja eine genauere Adressierung an eine konkrete Person die Möglichkeit der Wahl, sich mitzuteilen und über echte Inhalte zu reflektieren? Man fragt sich unwillkürlich, warum sich das Erzählerinnen-Ich nicht mit ihrer damals ebenfalls gefeuerten Abteilungsleiterin in Verbindung setzt, um wenigstens für sich selbst eine Aufarbeitung der Geschehnisse zu versuchen. Das unterbleibt mit der lapidaren Bemerkung: „Ich glaube, es war für uns beide das Beste so.“ So wabert das Eigengefühl der Protagonistin zwischen kluger Selbsterkenntnis und larmoyanter Verachtung der gesamten Spezies homo sapiens hin und her. Das ist in sich durchaus konsequent inszeniert, denn die Botschaft scheint ja letztendlich zu sein, dass sich niemand dem kollektiven Wahnsinn entziehen kann – ganz gleich, ob der nun durch eine aktive Labor-Manipulation, die evolutionäre Fehlentwicklung von Weltansprache-Tools wie Twitter oder vielleicht auch durch ganz etwas anderes zustandegekommen sein mag. Obendrein ist der Strudel der Welt- und Selbstanklagen so scharf formuliert, dass ihm die Lesenden durchaus streckenweise erliegen und, wieder daraus auftauchend, nicht umhinkönnen werden, sich unwillkürlich mit der eigenen Position in diesem schlechten Spiel zu beschäftigen.

Jürgen Berlakovich Nobot. Twitter Noir.
Roman.
Wien: Klever, 2022.
110 S.; geb.
ISBN 978-3-903110-79-3.

Rezension vom 29.03.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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