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Niemand. Nirgends

Boško Tomaševic

// Rezension von Jelena Dabić

Inwieweit prägt einen die Landschaft, in der man geboren und aufgewachsen ist? Welchen Einfluss übt auf uns die Landschaft der Fremde, des Exils aus? Wie hängt das zusammen mit unserem Ursprung als Individuum, mit unserem Verhältnis zu Sprache und Narration sowie mit dem Ursprung des Menschen überhaupt? Niemand. Nirgends, der neue auf Deutsch erschienene Roman des Philosophiedozenten und Schriftstellers Boško Tomaševic, geht zum einen diesen Fragen nach, zum anderen umkreist er eine Reihe von poetologischen und ästhetischen Fragestellungen.

Dennoch lässt sich ein vager inhaltlich-narrativer Kern festmachen. Es ist die Geschichte zweier Männer, die in der Landschaft der pannonischen Ebene das Licht der Welt erblickt haben, des Vaters Eden und seines Sohnes Matan. Die Geburt des Vaters kann man mit dem Beginn des 20. Jahrhundert datieren, die des Sohnes etwa um 1945. Die Vita der beiden Männer, jeweils in einem langen Kapitel gefasst, wird nur bruchstückhaft, wenn auch äußerst einprägsam erzählt. Eden, ein Kind vom Land, früh Vollwaise, wächst bei Verwandten auf, seine Kindheit ist hauptsächlich von der stillen Natur der Ebene und ihren schneereichen Wintern geprägt. Er lernt ein Handwerk, zieht dann als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg und kommt als Offizier der Armee des Königreichs Jugoslawien zu Bildung und einigem Ansehen. Abgesehen von einer kurzen Ehe wird über sein weiteres Leben wenig berichtet; Matan dürfte sein einziger Nachkomme sein und einer weiteren Ehe entstammen.

Dieser hingegen, ebenfalls ein Kind der Ebene und in seinem Charakter ebenso stark von ihr geprägt, wächst bereits in der Stadt und im sozialistischen Jugoslawien auf, er macht eine akademische Karriere als Dozent für Literaturwissenschaft und Philosophie. Diese Tätigkeit beschert ihm einige Aufenthalte im westeuropäischen Ausland, darunter in Deutschland, Frankreich und Österreich, namentlich Innsbruck. Spätestens hier wird klar, dass die Figur des Matan stark autobiographische Züge des Verfassers trägt, der seit den späten 1990er Jahren in Österreich lebt, wo er an den Universitäten Innsbruck und Wien lehrte. Matan hat auch eine aufgelöste Ehe hinter sich und lebt alleine in der Fremde, den Kontakt zu seinen Kindern hält er aufrecht.

Damit ist eine der zentralen Fragen des Romans umrissen: die der Abstammung, der ethnischen und kulturellen Herkunft. Diese wächst sich immer wieder, etwa am Beginn des Eden-Kapitels, in ungewöhnlich stimmungsvollen Bildern zu Fragen der Menschwerdung und der Welterschaffung aus. Nicht zufällig trägt der Roman den Untertitel Eine archäologische Erzählung“. Damit dienen die mythische Verbindung vom Vater zum Sohn, das Hervorgehen des Menschen aus einer feuchten, nebligen Sumpflandschaft, aber auch die unterschiedlich verlaufenden Schicksale der beiden Männer stets als Hintergrund, vor dem der Autor eine Reihe von philosophischen, ästhetisch-poetologischen und auch theologischen Fragen abhandelt. Der Theoretiker Tomaševic verhandelt hier Begriffe und Grundfragen des Seins: das Sein und das Nichts, das Nichts und das Etwas, den Logos, den Menschen und die Existenz Gottes, die Zeit, das Vergehen, die Notwendigkeit des Erzählens.

Zudem weist der Roman auch eine zeitgenössische Ebene auf. Matan, ein Mensch der Gegenwart, repräsentiert den scheinbar privilegierten, akademischen Migranten, der sich trotz all seiner wissenschaftlichen Qualitäten in der Fremde fremd und unerwünscht fühlt. Hier spart der Verfasser nicht mit Kritik an der „westlichen“ Lebensweise; insbesondere lässt er an den Intellektuellen der „Stadt im Gebirge“ – Innsbruck – kein gutes Haar. Ein weiteres Thema, das in Matans Reflexionen immer wieder auftaucht, sind die Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahre. Hier zeigt Tomaševic nicht wenig Streitlust und schrammt zuweilen hart an der Grenze von nationalistischen Haltungen vorbei. Dies bleibt wohl auch ein problematischer Aspekt des Textes: die feindliche und ablehnende Haltung des Autors und seines Protagonisten bezüglich „westlicher“ Ideen und Werte. Dies erklärt wiederum das fortbestehende Gefühl des Fremd- und Ausgeschlossenseins.

Interessanterweise nimmt die Thematik der Liebe zwischen Mann und Frau relativ wenig Raum ein. Vater wie Sohn erinnern sich zwar an Momente der Annäherung, an den Beginn der Liebe zu ihrer jeweiligen Ehefrau, dennoch sind beide geschilderten Geschichten nicht von langer Dauer, was in beiden Fällen offenbar auf weibliches Verschulden zurückgeht. Wenn auch Szenen dieser Liebesbeziehungen genauso überzeugend geraten wie die Schilderungen der flüchtigen Begegnungen mit anderen Frauen, in der Heimat wie in der Fremde, bleiben sie für den Text letztlich zweitrangig. Hier hat man es immer mit einem männlichen Subjekt zu tun, dessen Reflexionen und Empfindungen die Existenz des Weiblichen nur kurz berühren.

Der große Gewinn bei der Lektüre von Niemand. Nirgends ist seine sprachlich-stilistische Seite. Tomaševic gibt die Atmosphäre bestimmter Landschaften und Jahreszeiten in einer meisterhaften Art und Weise wieder, die in ästhetischer Hinsicht auf voller Linie überzeugt. Diese harmoniert mit dem stets einsamen, nachdenklichen Subjekt und seinen solipsistischen Gedanken und Empfindungen. Die melodische Sprache der langen, gemächlich dahinfließenden Sätze behält dank der Übersetzung von Helmut Weinberger auch im Deutschen ihre Wirkung. Dennoch nimmt der philosophisch-theoretische Teil des Romans so viel Raum ein, dass er eher zu einem poetologischen Langessay gerät als zu einem narrativen, belletristischen Text.

Niemand. Nirgends.
Roman.
Aus dem Serbischen von Helmut Weinberger.
Wien: Löcker Verlag, 2018.
277 Seiten, broschiert.
ISBN 978-3-85409-865-2.

Rezension vom 16.09.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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