#Roman

Nicht im Traum

Robert Kleindienst

// Rezension von Sabine E. Dengscherz (Selzer)

Ein Mann muss nach dem Tod seiner Frau alleine weiterleben. Simon Selander geht Tag für Tag in der Bibliothek seiner Arbeit nach, manchmal mit mehr, oft mit weniger Enthusiasmus; er besucht seine rüstige Mutter im Seniorenheim und steht Schmiere, wenn sie heimlich raucht; er nimmt zaghaft wieder Kontakt mit seiner Schwester auf, trifft eine alte Freundin und kämpft gegen drohende Entlassungen und Kürzungen in der Bibliothek. All das tut er. Aber bei alledem ist er auch irgendwie nicht ganz da. Nicht so wirklich im Hier und Jetzt. In seiner Gegenwart ist immer ein Stück Vergangenheit mit gegenwärtig. Es trägt den Namen Helen.

Nicht im Traum – der Titel von Robert Kleindiensts berührendem Roman über Liebe, Krankheit, Tod, Überforderung und andere Unsicherheiten verweist auf Undenkbares, Unerhörtes, etwas, das man doch nicht einmal im Traum tun würde oder auch auf Dinge, die nicht im Traum, sondern doch recht wirklich geschehen sind. Folgerichtig geht dem Protagonisten sukzessive das Gespür verloren, zwischen Realität und Einbildung zu unterscheiden. Am offensichtlichsten und bedrohlichsten wird dies in seinem nächtlichen Schlafwandeln, aber auch tagsüber findet er sich immer weniger zurecht.
Simon Selander wird schwächer und schwächer, er verliert beruflich den Boden unter den Füßen, wird von der Buchausgabe in die unterirdische Aushebung versetzt, als wollte man ihm auch in der Bibliothek zu verstehen geben, dass unter der Oberfläche seines Lebens etwas verborgen liegt, an dem er arbeiten muss, wenn er weiterleben will. Rundum bröckelt die trügerische Sicherheit bürgerlichen Lebens. Kollegen und Kolleginnen verlieren ihre Jobs, und auch die Geborgenheit der eigenen vier Wände ist in Gefahr, Selander sieht überall potentielle Einbrecher und Diebe und bestellt sich eine Sicherheitstür. Die kann ihn jedoch allenfalls nach außen schützen, nicht vor sich selbst.

Im Rückblick, in verstreuten kleinen Blenden, wird erzählt, wie Simon Selander seine Frau verlor, hilflos zusehen musste, wie der Krebs ihre Eingeweide fraß und sie sich selbst aufgab, nachdem die Ärzte sie aufgegeben hatten. Er muss ihr versprechen, dass er sie gehen lassen, dass er sie sterben lassen wird, dass er nicht zulässt, dass man ihr Leiden künstlich verlängert. Er erinnert sich an Hoffnungsschimmer zwischendurch, wenn es so aussah, als könnte sie den Kampf gegen den Krebs doch noch gewinnen, als könnten sie – wenigstens für eine Weile – eine kleine Auszeit nehmen, doch noch ein bisschen ihr Leben leben, jeder Tag zählt. Aber auf jede Besserung folgt der nächste Zusammenbruch und schließlich das unausweichliche Ende.
Je weiter Helens Krankheit in den Rückblenden voranschreitet, je mehr die Hoffnung sinkt, desto schlechter geht es auch Simon. Er wird selbst krank, schwitzt im Fieber und in seinen Erinnerungen, ist überfordert mit seinem Alltag alleine. Aber ganz alleine lässt man ihn nicht. Der Kontakt zu seiner Schwester wird intensiver, und Marta, eine gute alte Freundin ist für ihn da, wenn er sie braucht. Helen ist tot, aber das Leben geht trotzdem weiter, und andere Menschen werden wichtig, auch wenn sich das manchmal wie Verrat anfühlt.

Robert Kleindienst erzählt präzise, teils nachgerade unbeteiligt, teils in eindrücklichen, eindringlichen Bildern mit viel Weiß. Da ist das Weiß der Krankenhäuser und Neonröhren, dem sich sein inneres Auge nicht entziehen kann, und da ist das Weiß der Schneestürme, des Winters, der Eiswüste in Spitzbergen, wo seine Schwester Eisbären erforscht. Auch die Trauer ist hier weiß, klar wie Tränen. Schnee und grelles Licht blenden wie die Autoscheinwerfer, in die Selander zuweilen schlafwandelnd blickt und dabei immer wieder mit ein paar Schrammen davonkommt. Und doch nagt etwas an seiner Psyche wie ein Krebsgeschwür, etwas, das er sich wohl in guten Zeiten „nicht im Traum“ hätte ausmalen können und das ihm aber dann doch als einziger Ausweg erscheint, und auch als Helens Wunsch.
Ganz am Ende werden wir eingeweiht. An der Stelle, wo Selander vielleicht eine Chance hat, seine Traurigkeit zu überwinden. Wir Leser/innen seinen Schmerz mit ihm teilen. Es ist gesagt, es ist vollbracht. Bei der Enthüllung des Geheimnisses wird einem klar, dass doch eigentlich schon von Anfang an so viel auf dieses Ende, diese Beichte hingedeutet hat … und man wird unendlich traurig und bekommt doch Lust, das Buch gleich noch einmal von vorne zu lesen.

 

Sabine Dengscherz, geb. 1973 in OÖ, Autorin, Wissenschaftlerin, Universitätslektorin. Studium der Germanistik, Kommunikationswissenschaft und Hungarologie, Venia für Transkulturelle Kommunikation und Mehrsprachigkeit. Forscht zu Schreibprozessen und Kulturbegriffen. Mitglied der GAV. Lebt in Wien und Dénesfa. https://www.dengscherz.at/

Robert Kleindienst Nicht im Traum
Roman.
Innsbruck: Edition Laurin, 2013.
222 Seiten; gebunden.
ISBN 978-3-902866-08-0.

Homepage von Robert Kleindienst

Rezension vom 07.05.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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