#Roman

Neuneinhalb Finger

Stephan Alfare

// Rezension von Florian Dietmaier

Stephan Alfares neuer Roman Neuneinhalb Finger beginnt für seinen Protagonisten Leon Schillinger mit einer Reihe von unerfreulichen Erinnerungen. Die erste führt ihn in den August 2002. Schillinger ist Schriftsteller und hat damals zwar einen Literaturpreis in Feldkirch entgegengenommen, doch wird ihm im Zug zurück nach Wien sein Koffer gestohlen, in dem sich „ein Viertelpfund erstklassiges, hochwertiges und geruchsneutral verpacktes […] Heroin“ befindet.

Am selben Tag meldet sich ein Mann namens Kai Uwe Hagen bei ihm, der die Drogen vor drei Männern gerettet und dabei sein Bargeld sowie seine Kreditkarten verloren haben will. Schillinger trifft sich mit Hagen, bemerkt, dass dieser die grüne Chinohose trägt, die sich im gestohlenen Koffer befand, bekommt seine Drogen aber zurück. Hagen will in Kontakt bleiben. Er belagert Schillinger über Tage, lässt sich von ihm ein Hotelzimmer zahlen, will ihm seine Lebensgeschichte erzählen, die er aufschreiben soll, um damit „einen Nummer-eins-Hit auf der Spiegel-Bestsellerliste“ zu landen. Schillinger ignoriert Hagen schließlich.

Diese Episode wird in der dritten Person erzählt. In der ersten Person erinnert sich Schillinger im August 2006, dass er diese „recht ungewöhnliche Geschichte“ nicht aufgeschrieben, sondern nur seinem Fahrer erzählt hat. Er weiß aber nicht, warum sie ihm jetzt in den Sinn gekommen ist.
Die Leserin erfährt es wenige Seiten später. Denn die Dynamik Schillingers und Hagens wird von Alfare in einer anderen Bekanntschaft seines Protagonisten weitaus toxischer, bedrohlicher gespiegelt: Sein Name ist Töffels. Der wird von Schillinger „Lumpenfisch“ genannt, laut Wikipedia ein anderer Name für den Seehasen, einen Fisch, dem eine Schwimmblase fehlt, weshalb er am Meeresgrund leben muss, der aber statt Bauchflossen eine Saugscheibe hat, mit der er sich an Pflanzen und Steinen festsaugen kann.
Eine gutes Bild für Töffels oder eher für Schillingers Erinnerungen an ihn. Eine Schlagzeile über einen geklärten Mordfall erinnert Schillinger nämlich daran, was ihm Töffels am Weihnachtsabend 2003 unter vier Augen anvertraut hatte: Drei Morde in den Jahren 1983 und 2000. Schillinger weiß ganz genau, warum ihm dieser Weihnachtsabend in den Sinn gekommen ist und verwendet ein ähnliches Bild wie das des Lumpenfisches. Diese „Geständnisse waren wie Zecken, die sich eingenistet und in meiner Gehirnhaut festgesetzt hatten und immer noch Blut saugten.“ Und am selben Abend im August 2006 wird auch klar, warum er diese Zecken nicht entfernt, den Saugnapf nicht löst.

Seine Halbschwester Loki besucht ihn und empfiehlt ihm, nicht zu viel nachzudenken, wieder zu schreiben. „Das mach ich doch“, erwidert er. „Ich mach’s in Gedanken. Eben noch bin ich ein Mörder gewesen, ein Mann mit Blut an den Händen. Aber es ist nicht leicht, ein Psychopath zu sein, nicht mal in Gedanken.“ „Wenn du all diese Sachen nicht aufschreibst,“ erwidert Loki, „die dir heute durch den Kopf schwirren, dann geht das alles verloren.“ „Glaub mir, Loki“, versichert Leon, „nur der Teufel weiß, wie gern ich das möchte.“
Deshalb lässt Schillinger die Zecken weiter saugen, den Teufel Töffels weiter an seinen Gedanken haften: Er will nicht schreiben, will nicht, dass Töffels Geschichten zu seiner Schrift werden oder noch schlimmer seine Literatur beeinflussen. Deshalb muss er sich erinnern, was wiederum die Form des Romans als Folge von Erinnerungen erklärt. Dabei werden sie nicht nur für die Leser:innen zur Erzählung, sondern auch für andere Figuren.
Für Loki etwa, die Schillinger überzeugen konnte, sie ins Münsterland zu begleiten, wo sie, die bekannte Bildhauerin, noch im August ein Aufenthaltsstipendium antreten wird. Als er im Bordbistro des Zuges eine Schlagzeile über einen Doppelmord sieht, erinnert ihn das wieder an Töffels. Er kann nicht anders und erzählt Loki vom Weihnachtsabend 2003.
„Eins muss man dir lassen“, sagt sie anschließend, „Du hast eine blühende Fantasie, wirklich wahr. Du solltest wieder schreiben, Leon.“ „Ich war nicht dabei“, gibt Schillinger zu, „aber so ähnlich muss es sich abgespielt haben. Frag Sigmar“. „Töffels, du kennst ihn ja … er war Sigmars bester Freund, das weißt du … Töffels selbst hat mir die Sache geschildert. In allen Einzelheiten.“
Im Münsterland angekommen, trifft Schillinger die drei anderen Künstler:innen, die sich auf dem Gutshof einer Stiftung eingerichtet haben: Die Komponistinnen Luisa und Sukjai und den berühmten Schriftsteller Thilo Fenske. Doch dann kommen noch zwei andere Besucher in das kleine Dorf: Sigmar und Töffels. Letzterer heftet sich für die Dauer des Stipendiums an den Gutshof und seine Bewohner:innen, die ihn kennen und hassen lernen, aber nichts gegen ihn unternehmen können.

In dieser Atmosphäre beginnen sich auch Loki und die anderen Künstler:innen zu erinnern und von ihren Leben zu erzählen. Fenske etwa berichtet von seiner Zeit im Gefängnis und bringt Cormac McCarthy ins Spiel: „Zum Scheitern bestimmte Unternehmen scheiden das Leben für immer in Damals und Jetzt.“ Schillinger kommt der Satz bekannt vor. Fenske gibt zu: „Tja, Das ist aus The Crossing. Grenzgänger. McCarthy“. Schillinger kennt das Buch: „Keine Ahnung, warum ich mir diesen Satz eingeprägt hab. Hab ihn wohl geklaut und in irgendeinem meiner Bücher verwendet.“
Fenske entschuldigt Schillinger, sich selbst und ihre Zunft: „Bücher werden aus Büchern gemacht. Sagt jedenfalls McCarthy.“ Diesen und den nächsten Satz aus einem Interview mit McCarthy macht Alfare zum Motto seines Romans: „The ugly fact is, books are made out of books. The novel depends for its life on the novels that have been written.“
Kann man das auf Töffels übertragen, der die Gemeinschaft im Gutshof bald nicht nur mit den Geschichten quält, die Schillinger über ihn erzählt, sondern auch mit neuen Geschichten, neuen Verbrechen? Hängt sein Leben davon ab, dass er im Gespräch bleibt, dass von ihm erzählt wird? Das soll nicht verraten werden. Nur so viel: Alfare zeigt, dass seine Figuren eine Grenze haben, über die hinaus sie keine Geschichten mehr hören, geschweige denn weitererzählen wollen.
Seinen Roman will man dagegen nicht aus der Hand legen, ihm in die immer tieferen Abgründe seiner Figuren folgen, die er dabei mit Bedacht, Rücksicht und ohne Effekthascherei ausleuchtet, ohne sie bloßzustellen.

Stephan Alfare Neuneinhalb Finger
Roman.
Wien: Dachbuch, 2022.
448 S.; brosch.
ISBN 978-3-903263-47-5.

Rezension vom 19.10.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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