#Roman
#Prosa

Nellys Version der
Geschichte

Erika Wimmer Mazohl

// Rezension von Stephanie Doms

Es ist nicht zu ändern: Der Tod gehört zum Leben dazu. Dennoch ist das Sterben aus Sicht des betroffenen Individuums und der ihm Nahestehenden ein Ausnahmezustand. Wie sehr sich vieles verändert, wenn man einen sterbenden Menschen begleitet, erfährt in Erika Wimmers Roman eine Gruppe junger Erwachsener: Als Valeria, eine Frau mit starker Persönlichkeit und großem Einfluss auf ihr Umfeld, schwer erkrankt, beschließen ihre Freunde, sie nach Hause zu holen und dort gemeinsam bis zu ihrem Tod für sie zu sorgen. Dieser letzte Freundschaftsbeweis wird zur emotionalen Herausforderung, zum Wendepunkt für alle: Valerias Freunde lernen nicht nur, wie schwer es ist, Geliebtes loszulassen, sondern auch wie viele unterschiedliche Gesichter Verbundenheit und Abschied haben können. So einiges geschieht in diesen letzten Wochen auf zwischenmenschlicher Basis und das Sterben Valerias verändert ihr Leben drastisch.

Jahre später – Sturm, Svea, David, Hanna, Klara und Julia leben mittlerweile verstreut auf die halbe Welt – beschließt Sturm, die gerissenen Verbindungen wiederherzustellen und die Freunde für ein Wochenende zu versammeln. Valeria und was einst zwischen ihnen allen bestand, lässt ihn selbst nach all der Zeit noch immer nicht los. Es beginnt als Filmprojekt zum Thema Solidarität, doch vom ersten Tag an spielt sehr viel mehr in das Wiedersehen hinein: Erinnerungen werden wach, alte Wunden reißen auf, und was längst vergangen ist, wird in verändertem Licht wieder lebendig. Dabei übernimmt die verstorbene Freundin nur selten die Hauptrolle.

Erika Wimmers Roman ist keine Erzählung über den Tod und das Sterben. Zentral ist vielmehr, was es bedeutet, das letzte Stück des Weges gemeinsam zu gehen, und welche Kreise der Tod eines nahen Menschen auch Jahre danach noch im menschlichen Inneren ziehen kann. Klar und unsentimental ist Wimmers Ton, beinahe wie die detailgetreuen Regieanweisungen zu einem feingesponnenen Theaterstück – gleichzeitig beeindruckt die Autorin durch ein hohes Maß an Empathie, Feinfühligkeit und ehrlichem Interesse an ihren Figuren. Ihr gelingt es, in einem einzigen Roman mehreren Charakteren gleichzeitig eine ganz eigene Stimme zu geben. Textstruktur und Tonalität wechseln und verleihen den verschiedenen Biografien eine individuelle Farbe und besondere Leuchtkraft. So ist beispielsweise die verschlossene, von Problemen verfolgte Hanna bis zum Schluss ein poröses Stückwerk trüber Informationen, während die starke, sensible Svea – ein Charakter, dem man sich als Leser bald sehr nahe fühlt – durch feinsinnige Beschreibungen in ihrer ländlichen Idylle in Oberösterreich schnell lebendig wird: Man sieht Sveas renoviertes Bauernhaus vor sich, in dem sich die Freunde versammeln, den üppigen Garten, die Bekannten, die sie engagiert, um ihr an dem ereignisreichen Pfingstwochenende zu helfen. Man hat manchmal sogar den Duft der Gerichte in der Nase, die bei den gemeinsamen Essen aufgetischt werden! Denn auch den Nebenrollen und Schauplätzen widmet sich Wimmer eingehend. Für manche Figuren scheint sie eine Vorliebe zu haben, andere Nebenhandlungen oder Biografien verfolgt sie nur ein Stück weit, um anschließend wieder zur Hauptgeschichte zurückzukehren.

Der Vorhang auf Wimmers geschriebener Bühne hebt und senkt sich unrhythmisch, aber das Gezeigte zieht einen jedes Mal wieder aufs Neue in den Bann. Und so ergibt sich nach und nach ein großes Gesamtbild: Es kristallisiert sich heraus, wer mit wem einst wie verbunden war, was zur Trennung führte, was einem Wiedersehen lange Zeit im Weg stand, welche Persönlichkeitsentwicklung jeder einzelne durchgemacht hat. Erika Wimmer schickt den Leser auf eine Reise, ohne ihm das Ziel zu nennen – so bleibt bei aller beschriebenen Alltäglichkeit und scheinbaren Absehbarkeit noch genügend Raum für überraschende Wendungen und neue Perspektiven auf die Geschichte. Und genau diese vielseitigen Perspektiven und der Akt des Erzählens selbst spielen in- und außerhalb des Romans eine entscheidende Rolle: Da sind einerseits die Gespräche und die Interviews, die für den geplanten Film geführt werden. Andererseits ist da eine außenstehende Person, Nelly, die wir den ganzen Roman über nur aus der Ferne sehen und deren Version der Geschichte(n) wir als Leser in Händen halten. Und dann ist da auch noch die Geschichte, die Erika Wimmer zu diesem Buch veranlasste: Anita Pichler, eine Südtiroler Autorin, starb 1997, bis zu ihrem Tod wurde sie von ihren engsten Freunden gepflegt. Ihr ist das Buch gewidmet, gleichzeitig betont Wimmer zu Beginn, dass sämtliche Figuren des Romans frei erfunden sind. Es ist sozusagen auch Wimmers Version der Geschichte, die wir lesen.

Fazit: Ob man nun die Struktur oder den Inhalt von Nellys Version der Geschichte betrachtet – der Roman ist in jeder Hinsicht vielseitig. Dass er fesselt, bewegt und berührt, ist dabei Wimmers Sensibilität und entspannter Erzählweise geschuldet. Da ist nichts, was hetzt und dem Ende zustrebt, jedes Detail wird ausgekostet und fügt sich damit – trotz scheinbarer Bedeutungslosigkeit – harmonisch in das lesenswerte Gesamtkunstwerk ein. Als solches kann Wimmers Roman definitiv bezeichnet werden.

Nellys Version der Geschichte.
Roman.
Innsbruck: Limbus Verlag, 2014.
232 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-99039-000-9.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 21.05.2014

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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