Messners Ich-Erzählerin Veronika versucht sich an die Wochen, die zu diesem Abend geführt haben, und an ihn selbst zu erinnern. Er war so außergewöhnlich, dass er acht Jahre später immer noch Thema in den Medien ist. Das Erinnern fällt ihr schwer, denn sie sieht viele Momente „nicht isoliert, sondern [so], wie man den Inhalt übereinandergelegter Folien sieht: gedoppelt, als ob nur ein wackeliger, zweideutiger Blickkontakt mit dem Gesehenen zustande kommt.“ Zudem kann sie aufgrund der Außergewöhnlichkeit des Abends die Wochen, die diesem Abend vorangingen, „nur von ihrem unerwarteten Ende her denken.“
Deshalb versucht Veronika ihre übereinanderliegenden und vom Ende geprägten Erinnerungen chronologisch zu ordnen. Ganz kann sie die Erinnerung ans Ende aber nicht vermeiden. Und gerade mit diesen Ausblicken, die andeuten, aber nie verraten, was genau passiert ist, baut Messner eine Spannung auf, die sie bis zum Ende des Romans, der mit dem Ende des Premierenabends zusammenfällt, aufrecht halten kann.
Veronika erinnert sich zum Beispiel, wie sie bei der Premierenvorstellung mit geschlossenen Augen im Publikum sitzt, zuhört, am Ende klatscht mit vor Überraschung offenem Mund. Auch dass das aufgeführte Stück „retrospektiv gesehen, kein echtes Stück war (falls es so etwas wie echte Autorschaft überhaupt gibt, und echte Stücke).“
Was kam also an jenem Abend zur Aufführung und was hat das mit Kapitalismus zu tun? Veronika war damals, vor acht Jahren, Bühnentechnikerin an einem Stadttheater. Von Madga Mazur, der Intendantin dieses „finanzierten„ Theaters, wurde sie als Zeichen der Solidarität und weil die Chefin meinte, Veronika könnte das interessieren, zu einer „freien“ Bühne geschickt. Dieses ‚Theater auf Lager‘, das so hieß, weil es sich in einer stillstehenden Lagerhalle befand, hatte von sich reden gemacht, da es ein Stück zur Lage produzieren wollte: „Die Krise war zu dem Zeitpunkt, als ich vom ‚Theater auf Lager‘ erfuhr, in unserem Land gewiss keine Abstraktion mehr.“ Denn: „Die Politik hatte für die landesweit größte Bank gebürgt, die in mehrere Spekulationsskandale verwickelt gewesen war, deren Ausmaße zum damaligen Zeitpunkt kaum jemandem klar waren“.
Eine der „Folgeschäden“ dieser Bürgschaft war „die Reform oder, wie Magda es [in einem offenen] Brief nannte, die Abschaffung der Kulturpolitik“. Deshalb war das ‚Theater auf Lager‘ konsequent in der Wahl seiner Bühne: Die Lagerhalle, die zu einer Holzwirtschaft gehörte, stand der Krise wegen still.
Welche Krise genau gemeint ist, erfährt die Leserin nicht. Wahrscheinlich ist die Krise im Buch aber an die Weltwirtschaftskrise ab 2007 und die ihr zugrundeliegende Finanzkrise angelehnt, die durch das Zerplatzen der US-amerikanischen Immobilienblase ausgelöst wurde. Krisen, die so schnell aufeinander folgten – um Meiksins Woods Bild zu evozieren –, dass die Fundamente der vorangegangen noch nicht ausgehärtet waren.
Im Stück Lina und Leopold, das in Auszügen als Text im Text die Kapitel voneinander trennt, geht es jedenfalls um die Korruption in der Regio Real International Bank, zu deren Kreditnehmern einige Immobilienfirmen gehören. Diese Bank und ihr Vorstandsdirektor Werner Wending, so wird bald klar, existieren nicht nur im Stück: Die Regio war jene Bank, für welche die Politik ‚gebürgt‘ hat.
Dieses Spiel mit Fakt und Fiktion erklärt das Interesse der Medien, des Stadttheaters und anderer Kulturinstitutionen am Stück: „Die Theatergruppe bekam viel Aufmerksamkeit, weil sie von nichts anderem redete als vom Bankrott unseres Landes.“ Das ‚Theater auf Lager‘ gab der Regio und Wending die Schuld an diesem Bankrott, als sie sich noch auf die Unschuldsvermutung herausreden konnten. Schnell sammelten sich „Gerüchte und Falschinformationen, Verschwörungen und Geheimnisse“ an und das Theater und sein Stück wurden zum Skandal erklärt. Im Kulturteil gab sich die intellektuelle Öffentlichkeit „partnerschaftlich (in Worten, nicht in Taten oder Geld)“.
Das Geld war neben Fragen zur Aufführungspraxis das Hauptthema der ständigen Diskussionen der Gruppenmitglieder. Veronika war als „Beobachterin“ und Zuhörerin in der Gruppe positioniert. An ihrem ersten Abend stand sie eine Zeit lang da, wie sie später oft dastehen würde: an die Bar gelehnt, ein Bier in der Hand, neben jemandem, der auf sie einredete. An jenem Abend war das ihr Technikerkollege Edwin.
Mit ihm diskutierte sie ebenfalls übers Geld, wobei Messner sie ihre unterschiedlichen Arbeitsverhältnisse mitdiskutieren lässt: Kann ein staatlich gefördertes, also ein „finanziertes“ Theater überhaupt Kritik am Kapitalismus tätigen, oder ist es zu sehr im System integriert? Können andererseits die „freien“ Theater den Anspruch der höheren Kritikfähigkeit erfüllen, wenn es ihnen am Kapital, zum Beispiel für die nötige Technik, fehlt?
Und hier kommt die titelgebende Nebelmaschine ins Spiel, mit der Messner ein fantastisches Symbol gewählt hat. Nicht nur für die Finanzierung(sprobleme) des ‚Theaters auf Lager‘.
Denn Lina und Leopold sollte auch ein multimediales Erlebnis werden. Laura, die Autorin des Stücks, wollte mit mehreren Beamern den Inhalt eines Laptops, „Hunderte mit Dateien gefüllte Ordner […] als Projektionen auf eine Leinwand“ werfen. Die Projektionen sollten das „Herz ihres Stückes“ werden. Die Idee mit der Leinwand wurde aber aufgegeben. Die Wiederholungen in den Fotos, Mails, Tabellen, die für Veronika zeigten, dass Korruption nicht kreativ ist, sollten begreifbarer gemacht werden. Um das zu gewährleisten, wollten sie das Licht, „das Strahlen selbst“ sichtbar machen.“ Dazu brauchten sie Nebelmaschinen, die nur Veronika, als Angestellte des Stadttheaters, besorgen konnte.
Andererseits symbolisiert die Nebelmaschine die Finanzwirtschaft. Im zweiten Akt des Stückes sagt ein höherer Manager der Regio International: „Wir handeln mit Investments … Und was heißt das? Wir handeln mit Ungewissheit.“ Zu dieser Ungewissheit, zu diesem Nebel passt, dass Werner Wending erst auf Seite 61 des Romans auftaucht; auf einem Foto aus Lauras Ordnern. Alles dreht sich um ihn, fassbar scheint der Vorstandsdirektor aber nicht. Oder doch? Diese Frage wird am Ende, so viel soll verraten werden, wirklich „unerwartet“ beantwortet.
Elena Messners Roman ist genau zur richtigen Zeit und, wie eine schnelle Google-Suche ergibt, mit dem perfekten Titel erschienen: „Letztendlich stochern noch alle im Nebel.“, meinte etwa der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz im Juli 2020 in Bezug auf die Wirecard-Krise. Und Ende August 2020 schrieb der Kurier (sehr optimistisch), dass sich in der Krise um die Commerzialbank Mattersburg […] „langsam die Nebel lichten“ würden. Elena Messner zeigt in Nebelmaschine, wie die Kunst diese Nebel lichten kann und man wünscht sich, die Krisen der Wirklichkeit würden so enden wie dieser tolle Roman.