#Roman

Naturgemäß II

Marianne Fritz

// Rezension von Klaus Kastberger

Es ist ein Ros entsprungen / Wedernoch / heißt sie.

Mit dem Vorliegen der Werkcassette Naturgemäß II läßt sich nunmehr der reale Hintergrund des „Festungs“-Werkes von Marianne Fritz weit über den Ort Przemysl hinaus nachvollziehen. Der topographische Rahmen erstreckt sich vom Schwarzen Meer bis nach Polen, rein zeitlich reichen die Ereignisse bis ins 15. Jahrhundert und punktuell sogar weiter zurück.

Die Festung Przemysl liegt mitten in Galizien; dem Schuljahr 1872/73 kommt eine besondere Bedeutung zu, mehrere hundert Textseiten sind den Vorgängen in einem Klassenraum gewidmet. Ein Schüler namens Onufry macht sich dann auch zu einer Wanderung nach Przemysl auf; ein Weg, der in „Naturgemäß“ wiederholt beschritten wird: von allen Seiten und zu allen Zeiten driften die Figuren auf die Festung zu; Przemysl zieht die Leute an sich wie eine Lichtquellen die Insekten.

Galizien selbst steht bei Fritz nicht nur für einen realen, sondern auch für einen mythischen Raum; Topographie und Geschichte sind hier nicht nur in militärischen Karten verzeichnet, sondern gewissermaßen in die Seelen und Körper der Bevölkerung eingeschrieben. Dabei ist es der Autorin um einen speziellen Winkel des Landes, ein Gebiet namens „Gottesauge“ zu tun; dieses Dreieck wird von der Linie Krakau-Przemysl und nach oben hin von den beiden Flüssen Weichsel und San gebildet. Die Grundlinie von „Gottesauge“ korrespondiert mit den Fingern und Handballen der beiden transzendenten Erscheinungen Manda und Sani. Die Kinder des Landes bilden den geographischen Raum mit ihren Händen wie ein Dach über dem Kopf nach; historisch aber ist das Gebiet von den Verwaltungskreisen der Österreicher überlagert.

Fritz entwirft mit solchen Eintragungen das Schichtmodell einer Region, die von Krieg und Vernichtung gezeichnet ist. Derartige Katastrophen wirken sich in „Naturgemäß“ auch formal aus, dem Leser streckt sich mit dem Text ein zerklüfteter Korpus entgegen. Einzelne Wörter werden auseinandergerissen, Buchstaben eingekreist und Silben zerstochen, so daß bald der ,Orden‘ im ,Morden‘ steckt und – wortwörtlich – das ,Erz‘ im ,Herz‘. Dem Text erwächst aus diesen Strukturen eine ungeheure Ambivalenz, Verdoppelungen und richtiggehende Buchstabenkunstwerke werden geschaffen; Bruchlinien, die den Text in Zähler und Nenner teilen, ziehen sich über Seiten hinweg. Anderswo kommen, um die Dinge eindeutig zu markieren, militärische Orientierungshilfen zum Einsatz: ein XXX steht für andauernde Kämpfe, ein // bildet das Zeichen für fortwährende Folter, in verschiedenen Farbcodes definiert sich die Strategie.

An einer Stelle wird der Ort Przemysl dann wirklich als eine ‚Pumpe‘ des Lebens bezeichnet, von deren Rettung die ganze Geschichte abhängt. Mit dem Schicksal der Eingeschlossenen steht in „Naturgemäß“ alles auf dem Spiel, große Staaten- und Weltgeschichte überlagert sich mit individuellem Geschehen. Dabei kommt es zu seltsamen Verknüpfungen: „Rutschtage“ von einem Datum zum anderen finden statt, manchmal werden von einer Zeile zur anderen ganze Jahrhunderte übersprungen. Manche Figuren (wie beispielsweise eine gewisse Bibi Nuntaker) sind in „unsichtbaren Gängen“ unterwegs; auch gibt es „Luftlöcher“ im Raum, durch die schon einmal eine Figur entschlüpfen kann. Gewissen Gestalten wird, wie es mit einer wiederkehrenden Wendung heißt, „die Erddecke aufgehoben“, was wohl soviel bedeutet, daß sie aus einem Zeitraum in einen anderen versetzt werden. Dies betrifft beispielsweise einen „General der Generäle“, der aus dem 17. Jahrhundert kommt und im Jahr 1914 plötzlich in der Schlacht um Przemysl auftaucht.

Die Verbindungen, die in solchen „Legierungen“ und „Karambolagen“ geschaffen werden, spiegeln sind in der äußeren Form des Textes wider. Die Schrift selbst macht sich zum Thema, der Text wird gefaltet und damit fortwährend die Geschichte und die Topographie des Raumes neu interpretiert. Als Nukleus all dessen lauert im Hintergrund die „Tiefenstaffelung der Front“; ein Erklärungsmodell, vor dem alle Biegungen und Beugungen des Textes doch noch einen Sinn erlangen.

Ein wichtiges Element des Textes ist die „kleine Flußschrift“, die Autorin vergleicht seine Funktion mit dem „Entlanggehen an einem Ufer“, allerdings „wider die Laufrichtung des Wassers“. Mit der kleinen Flußschrift kann solcherart das Einzugsgebiet des Meeres, des Stromes, des Flusses und des Baches vermessen werden, jedoch, wie Fritz anmerkt, „wirklich nur ‚einmal‘, im Augenblicke des Auftauchens, das gleichzeitig ein Eintauchen ins ‚Es war einmal‘ ist.“ Das Festungs-Projekt und allen voran „Naturgemäß“ lassen sich selbst als die unablässigen Anwendungsfälle der kleinen Flußschrift verstehen. Das Gegenwärtige, welches sich aktuell um Przemysl 1914/15 gruppiert, wird in einer einzigen Berührung, die gleichzeitig auch schon sein Untergang ist, als Einzugsgebiet des Vergangenen greifbar.

So ernst wie die österreichische Autorin es mit der Wirkkraft von Geschichte nimmt, hat es mit ihr lange kein Schriftsteller genommen. Aberhunderte Figuren- und Ortsnamen (von „Hier-alles-Karotte“ bis „Dort-kommst-du-nie-an“) und Dutzende von Datumseinträgen bringen etwas von dem zur Evidenz, was in der Großregion Polen, diesem „ewigen Todesgebiet“, bis über den Ersten Weltkrieg hinaus rücksichtslos zerstört und systematisch vernichtet wurde. Die negative Ontologie der Autorin weist dabei nicht nur auf die blutige Vergangenheit, sondern bereits auch auf eine fernere Zukunft hin. Dort wären dann, wenn es das Buch „Naturgemäß“ nicht gäbe, alle Spuren getilgt, die die Menschenleiber in der Festung hinterlassen haben.

Marianne Fritz Naturgemäß II
Roman.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998.
2720 S.; geb.
ISBN 3-518-40992-1.

Rezension vom 15.03.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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