#Prosa

Natura morta

Josef Winkler

// Rezension von Arno Rußegger

Josef Winkler hat allein im Titel seines neuesten, schon vor dem Erscheinen hochgelobten und zu Recht mit dem Alfred-Döblin-Preis 2001 ausgezeichneten Buches mit minimalen Mitteln einen umfassenden Spannungsbogen konstruiert. Sozusagen „in nucleo“ wird hier die Poetologie des nachfolgenden Texts entworfen, eine dichterische Struktur skizziert, die aus einem faszinierenden Gegen- und Ineinander von offener und geschlossener Form, von Vielgestaltigkeit und Reduktion, von Buntheit, Licht und Dunkel, von Lebenslust und Todesgebanntheit ihre unnachahmliche Wirkung bezieht.

Einerseits geht es um den Begriff „Natura morta“, der – gemäß einer entgegengesetzten Logik – in der bildenden Kunst als ein Synonym für die Gemäldegattung der sogenannten „Stillleben“ verwendet wird. Aufgrund seiner Ambivalenz verweist er darauf, dass sich in einem Stillleben eben nicht nur das Leben in besonderer Immanenz und Konzentration, in scheinbar eingefrorenen Momenten spiegelt, sondern noch etwas anderes, als sie darstellen: eine nekrophile Dämonie. Andererseits geht es um die Novelle, eine jener gedrängten Erzählungen also, die, um einmal mehr Goethes berühmt gewordenen Definitionsversuch zu zitieren, eine „sich ereignete unerhörte Begebenheit“ schildern. Dass die vorliegende Novelle in Rom spielt, macht sie darüberhinaus gleichsam zu einem Epilog von Winklers Roman Friedhof der bitteren Orangen (1990).

In einem Stillleben wird zunächst der äußere Augenschein einer gegenständlich aufgefassten Wirklichkeit möglichst perfekt imitiert. Doch unversehens fließen Realistik, Illusionismus, Camouflage, Verspieltheit, dekorativer Schematismus und Parodie übergangslos ineinander. Denn ist es nicht lächerlich, dass ein Mensch einen gut gemalten Hummer schätzt, spiegelblanke Trauben und einen an den Läufen aufgehängten Hasen, in dessen Nähe sich meist noch ein Fasan befindet? Ist nicht der menschliche Appetit an sich etwas Lächerliches, und gemalter Appetit noch lächerlicher als natürlicher? In der Geschichte des Stilllebens jedenfalls wurde, seit der Renaissance, die Nachahmung der Natur, die Bild-Erfindung, Komposition, Farbgebung und Farbauftrag immer wichtiger als der Inhalt des Bildes oder die Bedeutung der abgebildeten Gegenstände, weswegen die Stilllebenmalerei als Vorläuferin der abstrakten Malerei gilt. Josef Winklers Natura morta, entstanden nicht zuletzt im Zuge intensiver Beschäftigung mit einer einschlägigen, bedachtsam zusammengestellten Bildergalerie rund um den Schreibtisch des Autors, enthält literarische Reflexe auf all die genannten Aspekte einer Weltschau, die eine wahnwitzige Detailversessenheit mit einem unbedingten Willen zu ästhetischer Stilisierung verbindet. Natura morta bezeichnet daher nicht nur eine typische Vorliebe Winklers in thematischer Hinsicht, nämlich Motive von Tod und Leben in eins zu setzen, sondern vor allem ein zur Meisterschaft gebrachtes künstlerisches Verfahren, das es erlaubt, gleichermaßen Gegenstände, tierische und menschliche Kreaturen so zu arrangieren und darzustellen, dass die Fülle der Erscheinungen von ihrer konkreten auf eine abstraktere, allgemeingültigere Ebene gehoben wird.

Erzählt wird von den Händlern und Kunden des Markts auf der Piazza Vittorio Emanuele, wo Obst, Gemüse, Fisch und Fleisch feilgeboten werden, und von Besuchern des Vatikans. Unter ihnen befinden sich eine Feigenverkäuferin und ihr sechzehnjähriger, mit besonderer Schönheit ausgestatteter Sohn Piccoletto, der bald als Protagonist der Geschichte hervortritt und schließlich tragisch endet. Die meisten anderen der vielen, oft nur kurz beschriebenen Personen sind eigentlich keine Figuren im üblichen Sinn; sie werden in kein System psychologisierender Scheinkausalitäten eingebaut, sondern erhalten Konturen nur in Hinsicht auf ihre visuelle Oberfläche und jeweilige Tätigkeiten, die der beobachtende Erzähler jedoch aufs genaueste registriert und notiert. Der innere Zusammenhang der Narration wird stattdessen mittels einer Szenerie hergestellt, in der unsere Sicht ständig durch irgendwelche Lebensmittel verstellt wird. Überall hängen ausgeweidete Tierkadaver herum, fließen Blut und andere Körpersäfte, springen überreife Früchte auf oder verfaulen langsam, bis zum Schluß eine Leiche zu beklagen ist. Wann ist einem zuvor schon einmal so eindringlich bewußt gemacht geworden, dass Waren stets eine Form von Nahrung (in einem weitesten, metaphorischen Sinn) sind? Dass das Gesetz jeden Marktes das Verschlingen ist, dem unweigerlich auch Menschen zum Opfer fallen. Der Ideenkomplex Nahrung-Sex-Tod bestimmt den Kern dieser Poesie.

Josef Winkler lädt Wahrnehmungen mit besonderer Bedeutung auf, indem er seinen insistierenden Blick mit einer Reihe von wiederkehrenden Redewendungen, Leitmotiven und Dingsymbolen kombiniert (z.B. Cola-Dosen, Plastikschnuller, Tätowierungen, Herzen, Barbiepuppen oder Unterwäsche). Er porträtiert einen archaisch anmutenden Paradies-Garten, allerdings in heutiger Version; denn gleichzeitig wird wie in einem Vexierbild dessen andere Seite gezeigt: ein Ort, in den Gier, Wollust, Schrecken und Schmerz längst Einzug gehalten haben. Daher befindet er sich auch in Distanz zum Vatikan, dem einstigen, weil seinerseits pervertierten Zentrum religiöser Macht. Satz für Satz wird jene Spannung, die eingangs benannt worden ist, aufgebaut; praktisch jede x-beliebige Stelle der Novelle bezeugt, wie souverän der Autor Zustände und überraschende Ereignisse, Anschauung und Ausdruck, Sprache und Sinnlichkeit miteinander verkuppelt. Es gelingt Winkler, eine glückliche unersättliche Traurigkeit zu erregen, wie das sonst nur Stillleben-Gemälde von höchster Qualität vermögen.

Natura morta.
Eine römische Novelle.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001.
104 Seiten, gebunden.
ISBN 3518412698.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 02.08.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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