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Nachwelt

Marlene Streeruwitz

// Rezension von Anne M. Zauner

Margarethe Doblinger ist unglücklich. Ihr Unglück beschwört jedoch keine heroische Geste herauf. Margarethe Döblingers Unglück ist das Unglück eines alltäglichen Unglücks. Und nichts hält diesem zähen kleinen Unglück stand: kein Schicksal, keine Flucht, kein Aufbegehren. Es hat sich unauslöschlich hinter brennenden Augenlidern festgesetzt.

Marlene Streeruwitz hat in Margarethe Doblinger eine untröstliche, eine ungetröstete Frauenfigur geschaffen. Das Leben entgleitet ihrer Heldin; als junge Frau erzwingt sie gegen alle Widerstände ihr Kind, ein paar Jahre später verläßt sie es für einen neuen Mann, sie verläßt auch diesen Mann für einen neuen und den neuen für einen anderen. Jedes Mal ist es die bedingungslose Liebe. Und jedesmal kommt die Enttäuschung. „Sie sollte sich nicht beklagen. Was war das schon. Es ging ja nur um die Liebe. Um ihr Leben. Ihre Zeit. Tragen, hatten sie gesagt. Man müsse es tragen. Von Gott gegeben. Sie setzte sich auf. Versuchte tief zu atmen. Sie lehnte sich zurück und breitete die Arme aus. Sie holte tief Luft. Ein Schluchzer schlug gegen den Atem.“ (S. 96f.)

Ihr nagendes Unglück, ihre ungestillte Sehnsucht setzen Margarethe Doblinger ins Unrecht – vor sich selbst, vor den anderen. Denn sie ist nicht nur Opfer, sondern auch eine Tyrannin, vor allem in der Liebe, im Wahn, nicht lieben oder nur lieben zu können, eine Egoistin voller Schuldgefühle. Über allem lauert die Angst vor dem Alleinsein. Mit 39 Jahren.

An einem Scheideweg fährt Margarethe Doblinger nach Los Angeles; ihr äußerer Anlaß sind Recherchen für eine Anna-Mahler-Biografie, ihr innerer ist ein neuer Abschied.
Anna Mahlers Biografie-Splitter verknüpfen sich nahtlos mit Margarethe Doblingers Geschichte. Frauenschicksale. Glücksmomente, viel Unglück. Alkohol und Depressionen. Entfremdung. Die kurzen Einblicke in Anna Mahlers Leben enthüllen nicht viel; letztlich war sie eine nur mäßig begabte Bildhauerin, ein Leben lang rebellische Tochter berühmter Eltern.

„Anna verachtete die Avantgarde. Das war ihr nicht zugänglich. Sie wollte Schönheit und schöne Menschen.“ (S. 49)

Margarethe Doblinger: „Sie hätte ihn nur lieben wollen und alle Schönheit rund um ihn. Um sie beide. Und eine Ruhe. Würde. Ein stolzes Gehen. Nebeneindaner.“ (S. 158)

Das Leben, ein Traum.

Die Autorin taucht auch die Landschaft Kaliforniens in die entsprechenden Farben. Sonne. Strand. Palmen. Braungebrannte, lächelnde Menschen. Der schöne Schein. In der Nacht fliegen jedoch Hubschrauber über Los Angeles und versprühen Gift. Malathion. In der ewigen Sonne hat sich die Natur mit klebrigen roten Pusteln überzogen, ist das Paradies räudig geworden.

Marlene Streeruwitz er/findet für ihre Protagonistinnen kein Happy-end, keinen Blendstrahl, der zu Erkenntnis führt, sie begleitet sie ein Stück des Wegs, beschreibt ihre tastende Suche nach Selbstbestimmung mit Verständnis und Wissen: Frauenschicksale eben.

Das herausragende Element von Nachwelt ist die Sprache. Sie hat große Suggestivkraft; Marlene Streeruwitz perfektioniert im dritten Roman ihren idiosynkratischen Stil. Die Daseinskrise der Margarethe Doblinger stürzt dank des souveränen Sprachgefühls der Autorin nicht in bekenntnishafte Suada ab. Ein-Wort-, Zwei-Wort-Sätze, kurze, spröde Sätze brechen den Fluß der tagebuchähnlichen Aufzeichnungen (in dritter Person); bruchstückhafte, unfertige Sätze rhythmisieren ihn. Ohne die herbe Sprache des Romans wären die biografischen Stationen von Margarethe Doblinger und Anna Mahler wohl nur „Frauenschicksal“. Streeruwitz verwandelt sie in Poesie.

Nachwelt.
Ein Reisebericht Roman.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 1999.
399 Seiten, gebunden.
ISBN 3-10-074424-1.

Homepage der Autorin

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 10.12.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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