#Prosa

Nachtseitiges

Julian Schutting

// Rezension von Barbara Angelberger

„Ja, sagte der Meisterschütze, der mit fünf Kugeln genau fünfmal ins volle Menschenleben getroffen hatte, da ist guter Rat theuer, warum und zu welchem Ende ich das gethan!“ (S. 6)

Bereits die ersten Zeilen von Schuttings Prosasammlung Nachtseitiges machen deutlich, dass das Werk keinesfalls dazu angetan ist, die LeserInnen in eine „gute“ Nacht zu entlassen. Das Abgründige der menschlichen Existenz steht im Zentrum des Buches: das Quälen, Töten, Sterben.

Im ersten Teil – mit „Nachtschatten“ überschrieben – erzählt Schutting von menschlichen Tragödien wie dem Seilbahnunglück in Kaprun, von Heckenschützen, sexuellem Missbrauch, Eltern, die ihre Kinder ermorden, etc. Was die Nachrichten kühl, nüchtern, aseptisch frei Haus bringen, gewandet Schutting in die Sprache des Märchens: „und wißt ihr, wieso der gute Mann nicht und nicht mit seinen zwei Kindern nach Hause kommen wollte? das kam so: nicht nach Hause führte der Mann seine Kinder, er führte sie ein Stück in den tiefen Wald hinein. und dort schoß er das ältere Kind ins Herz, sodann das jüngere Kind gleichfalls ins Herz, und zu guter Letzt schoß er auch sich mitten ins Herz, daß es auch sein Herz wie die Herzen der Kinder hurtig in tausend Herzstücke zerriß. und so lagen denn die drei mit totgeschossen zersprungenen Herzen mitten im Wald.“ (S. 8)

Indem sich Schutting der Form des Märchens bedient, bietet er den Lesenden an in die Rolle von Kindern zu schlüpfen. Zum Teil spricht er sie auch als solche an: „nehmts nicht auch ihr manchmal dem andern was weg, zum Beispiel das Gummikrokodil, auf dem ihr im Planschbecken und im Kinderbassin gern rastets, […]“ (S. 21).

Dieser Kunstgriff und der märchenonkelhaft begütigende Tonfall, in dem Schutting nachgerade affirmativ vom Grauen erzählt, entwickelt einen Sog, der die Lesenden direkt in die Texte hineinzieht und sie verstört zurücklässt. Die Flucht in erwachsen-distanzierte, sachliche Rezeption erlaubt Schutting nicht, ebensowenig das sensationslüstern-wohlige Schaudern, das Tragödien ja immer auch hervorrufen.

Der zweite Teil des Buches – „Dämmerschatten“ – ist ein wenig lichter gehalten. Schutting stellt darin unterhaltsame Phantasien zum Thema Katholizismus an und wendet sich besonderen Auswüchsen der Frömmigkeit zu. Er polemisiert gegen die Institution Kirche (ebenfalls eine Expertin für das Nachtseitige der menschlichen Existenz), wenn sie sich als satt, selbstgerecht und mitleidlos präsentiert. So etwa wünscht der Autor, dass all jene Bischöfe und Kardinäle, die im Namen des 5. Gebotes unerbittlich die Geburt auch von verkrüppelten und schwachsinnigen Kindern fordern, diese adoptieren. Die Geistlichen sollen sie ein Leben lang füttern, in Windeln legen, für sie da sein: „ein Kleid haben wir ohnehin an, also werden wir besonders gute Pflegemütter sein!“ (S. 102)

An anderer Stelle fragt ein naives Ich hochrangige Kleriker, warum sie von der Trachtenkapelle bis zu „Meerschweindln“ alles segnen, „und agratt die paar Tschapperln von Homos, wo sich halt gar so gern segnan lassen täten, die woits net wie die Meerschweindln segnan?“ (S. 108) . Eine entlarvende Betrachtung gilt auch Papst Johannes Paul II, den Schutting – sich der eigenen Untergriffigkeit kritisch bewusst seiend – als „apostolisches Wrack“ bzw. kirchlichen „Apparatschik“ bezeichnet.

In Teil drei, den „Schlagschatten“, widmet sich der Autor alltäglicher Unbill: unglücklichen Ehen, einem un/geselligen Abend, der Unverschämtheit der Macht und dem Sterben in seiner Alltäglichkeit.

Auch in diesem Kapitel erweist sich der Autor als versierter Stilist. Seine Texte entziehen sich sowohl in sprachlicher als auch inhaltlicher Hinsicht schneller Konsumierbarkeit: mit viel Sinn für Ironie und Originalität lässt Schutting einem/r das Lachen im Halse stecken bleiben.

Nachtseitiges.
Salzburg, Wien: Residenz, 2004.
150 Seiten, gebunden.
ISBN 3-7017-1367-7.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 08.09.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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