#Prosa

Nachts um eins am Telefon

Michael Köhlmeier

// Rezension von Georg Renöckl

Das Leben und der Traum. Darum geht es in den Erzählbänden Michael Köhlmeiers, glaubt man den Klappentexten. Wurde beim „Roman von Montag bis Freitag“ (2004) noch angekündigt, die darin enthaltenen Geschichten erzählten „unser Leben“, so sind in Köhlmeiers aktuellem Buch Nachts um eins am Telefon laut Cover nun „unsere Träume“ dran. In beiden Fällen ist es ratsam, sich von solchen Ankündigungen nicht abschrecken zu lassen, und das ist bei weitem nicht die einzige Gemeinsamkeit der beiden schmalen Bände.

Nachts um eins am Telefon, das ist der Rahmen für die meisten der dreiundzwanzig neuen, kurzen Erzählungen von Michael Köhlmeier. Ein einsamer Erzähler mit Schlafstörungen telefoniert des Nachts mit alten Freunden, manchmal auch mit Unbekannten, erzählt Geschichten und wird gelegentlich zum Zuhörer.
Erstaunlich ist dabei die Intimität, die das Telefon dem Erzähler im Umgang mit seinen Gesprächspartnern ermöglicht – eine Intimität, die ihm in seinem Alltag offenbar abgeht. Er will oder kann nämlich mit anderen Menschen weder am gleichen Tisch essen noch im gleichen Bett schlafen, führt Selbstgespräche in seiner leeren Wohnung und streift allein durch Straßen und Supermärkte. Telefonierend gelingt es ihm des Nachts, die Einsamkeit und die deprimierende Gegenwart hinter sich zu lassen. Im Gespräch mit alten Freunden und alten Lieben, die zwar nicht rosten, aus denen aber auch nichts mehr werden kann, versetzt sich der einsame Geschichtenerzähler immer wieder in eine goldene Vergangenheit zurück, möglichst nahe an der Zeit, in der er dreizehn war und mit sich selbst im Reinen. Erzählt wird dann vom Glück und von Unglücksmaschinen, einander anschweigenden Ehepartnern, abgebrochenen Daumen, allgemein gültigen Arschlochdefinitionen oder Kindern, die Schmuck von Gräbern stehlen.

In diesen meist nur zwei oder drei Seiten langen Geschichten gelingt es Köhlmeier immer wieder, das tiefe Misstrauen des Geschichtenerzählers gegenüber Gegenwart und Zukunft auf engstem Raum darzustellen. Über eine oberflächliche Schönheit schreibt er zum Beispiel: „Jetzt ist sie zweiundvierzig und wartet immer noch auf den Richtigen. Sie ist einsam und weiß es nicht. Sie ist so diesseitig, das kritisiert ihr Bruder am meisten an ihr. Sie kratzt sich am Hintern, und wenn sie lacht, platzt sie heraus, und was man für Anmut hält, ist die bloße Schönheit, und wenn die nicht mehr ist, dann wird aus Jetti Lenobel ein grauer Fleck.“
Das sitzt, und die versöhnlichen Ideen, eben dieser Jetti allabendlich telefonisch eine Gutenachtgeschichte zu erzählen oder einen alten Freund als „menschliches Tagebuch“ zu benützen, sind nur schwache Hoffnungsschimmer im melancholischen Nachtdunkel, das den Erzähler umgibt.

Gelegentlich treten beim Lesen aber auch Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieses Erzählers auf, was einen zusätzlichen Reiz der Geschichten ausmacht: Einmal heißt ein alter Freund Caligula, weil er so dick ist wie der unförmige Despot, einige Geschichten später stammt derselbe Spitzname plötzlich aus einer Zeit, als der Freund noch ein dünner Knabe war, ein Stiefelchen. Erfindet der Erzähler seine Figuren etwa jedesmal aufs Neue? Einmal meint er, seine Brotverkäuferin sei eine nächtliche Anruferin, und hat nach dem peinlich verlaufenen Gespräch Angst, nicht mehr bei ihr einkaufen zu können. Doch wenig später keimen Zweifel an dieser Version auf, ein Gespräch mit der vermeintlichen Telefonbekanntschaft im Supermarkt läuft ebenso peinlich ins Leere und man fragt sich, ob der hypersensible Erzähler, der sich beim Versuch, diese Frau und ihr Kind zu beobachten, lächerlich macht, ohne es zu bemerken, nicht in einer völlig versponnenen Traumwelt lebt und in seinen schlaflosen Stunden manchmal einfach nur Gespenster sieht.

Zu einem solchen Erzähler passt es durchaus, wenn einige Telefon-Dialoge etwas gestelzt daherkommen oder rührselig wirken („Du fehlst mir“, hat er gesagt. „Du mir auch“, habe ich gesagt. „Aber wenn du kommst, bring die Zeit mit, die so gut zu uns war.“). Ob man als Leser bei solchen Sätzen immer mit kann, ist eine andere Sache, und im Laufe der Lektüre stellt man sich des öfteren die Frage, ob Gespräche wirklich so häufig mit spruchreifen Sagern, sitzenden Pointen oder bedeutungstriefenden Sätzen beginnen und enden können. „Ich wäre gern dein Freund gewesen mit dreizehn“, sagte er. „Mit dreizehn hatte ich keine Freunde“, sagte ich. – Fast zu cool, um wahr zu sein. Solche Dialoge sind wohl der Tribut an die kurze, konzentrierte Form, klingen aber einstudiert.

Ist dieser manchmal flunkernde, dann wieder pathetische Erzähler, der in Wien lebt, in Hohenems aufgewachsen ist und in Marburg studiert hat, eigentlich Michael Köhlmeier selbst? Was für ein geschicktes Verwirrspiel der Meistererzähler mit Autobiografischem treibt, wird klar, zieht man den „Roman von Montag bis Freitag“ zum Vergleich heran. Auch dort sieht es auf den ersten Blick so aus, als wären Köhlmeier und der Erzähler ein und dieselbe Person. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch klar, dass zumindest die Erzähler der beiden Bücher zwar sehr viel gemeinsam haben, aber nicht identisch sein können: So gibt es beide Male einen unglaublich dicken Freund, der von seiner Frau verlassen wurde und in seiner Jugend Bassist war. Nur heißt er einmal Pit Clausen und einmal Caligula, und ihre Leben verlaufen ziemlich unterschiedlich. Mit vertrauten Namen wird der Leser an der Nase herumgeführt, da sie dann doch andere Menschen bezeichnen (die Fenkarts). Auch die abenteuerliche Geschichte von Frau Vallaster Sohn, im Vorgängerband versprochen, aber nicht erzählt, wird in „Nachts um eines am Telefon“ in einer leicht abweichenden Version nur angedeutet. So ganz wird man diesen Erzählern und dem Autor nicht auf die Schliche kommen, soviel ist fix.

Nachts um eins am Telefon ist ein Buch für Köhlmeier-Fans: Wer den „Roman von Montag bis Freitag“ gemocht hat, wird auch dessen Nachfolger mögen. Unter anderem wegen der vielen Wiedererkennungseffekte, die für zunehmende Vertrautheit mit dem Erzähler und seiner Welt sorgen. Neueinsteiger werden zuerst einmal etwas Geduld mit dem manchmal übertrieben empfindlichen, kontaktgestörten Erzähler aufbringen müssen, um auf seine Neurosen, Träumereien und Hirngespinste einsteigen zu können. Was sich aber lohnt, denn dieser Erzähler hat in all seiner Verschrobenheit vielleicht mehr Allgemeingültiges über eine Welt, in der er gar nicht so alleine lebt, zu sagen, als es auf den ersten Blick aussieht.

Michael Köhlmeier Nachts um eins am Telefon
Erzählungen.
Wien: Deuticke, 2005.
112 S.; geb.
ISBN 3-552-06020-0.

Rezension vom 07.11.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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