So wird Schreyers 12-teilige Tuschezeichnung „Bruchwald“ mit Texten über den Kindesmissbrauch in einer Berghöhle und dessen Folgen, über Lawinenbedrohungen, Lawinenverbauten, alte Bahnanlagen und Steinbrüche verbunden. Wissenschaftliche Erläuterungen zur Herbstfärbung des Laubes oder zur Schwarmintelligenz der Ameise alternieren mit detaillierten Beschreibungen einer Bergtour im Salzkammergut. Dazwischen blitzen sarkastische Anspielungen wie selbstverständlich auf und nehmen den Texten den Anschein der Strenge: „die steil abfallenden Uferfelsen müssen höher oben umgangen werden, unten wird die schwimmende Holzplattform nahe der Felswand verzurrt sichtbar (als dann vorgezogene Seebühne für den Open-Air-Verein www.sprudel sprudel-musik.com)“. Durch genaues Hinsehen wird das Bild einer wenig idyllischen Bergwelt geschaffen, das sich – obwohl es sich als Enttäuschung für Heidi- und Sound of Music-Fans entpuppt – nicht als Destruktion dieser Klischees versteht, sondern sie mit neuen Ein- und Ansichten erweitert.
Bild und Text ergänzen einander und schreiben die Geschichten gleichermaßen gegenseitig fort. Im ersten Kapitel ist es das 16-teilige „Monument (Ameisenhaufen)“, das – jeweils auf der rechten Buchseite – einerseits als Einheit mit dem Text gesehen werden kann, aber auch für sich alleine steht. Eine Einheit bilden Text und Visuelles hinsichtlich der zugrunde liegenden Langsamkeit, die auf allen Ebenen erkennbar ist. Die Länge der Sätze und die oft komplizierte Verschachtelung lässt kein schnelles Lesen zu, Sinn erschließt sich nur durch langsame, genaue oder mehrfache Lektüre. Der Stil zwingt zur Entschleunigung.
Die Tendenz zur Langsamkeit ist auch den oft skizzenartigen Bildern zu konzedieren: Der impressionistische Stil macht es notwendig, zurück zu treten, um ein Erfassen des Ganzen zu ermöglichen. Detailtreue und Genauigkeit im fast mimetisch-realistischen Sinne – was aber nicht im Detaillistischen mündet – ist gleichermaßen charakteristisch für die abgebildeten Werke.
Bereits am Titelbild ist diese ambivalente Situation erkennbar, wobei hier das A4-formatige Buch auf mehrfache Weise die Aufmerksamkeit auf sich zieht: Der Wortsinn des Titels „Nachsuche“ – zählt man nicht zu den Kundigen der Fachsprache der Jagd oder der Biologie – wie auch das Sujet des in Grau und Weiß gehaltenen Titelbildes erschließen sich nicht unmittelbar.Beim erstmaligen Betrachten fällt auch sofort der Umschlag des Buches auf, bei dem es sich um ein mehrfach gefaltetes Plakat handelt, das auf der Innenseite das Bild „Fliegen / Fladen“ zeigt.Hervorzuheben ist am dreiteilig aufgebauten Werk außerdem die eigenwillige Positionierung des Textes, die je nach Kapitel variiert: Während in „Gesichtssinn und Ortsgedächtnis (Ameisenstraße)“ der Text linksbündig ausgerichtet ist, liegt dieser im zweiten Kapitel „Nachsuche“ zentriert und im dritten „zu Bruch (in Lawinenschneisen und Kinderseelen)“ rechtsbündig vor. Wider Erwarten sind die Texte nicht blocksatzartig ausgerichtet, sondern am Rand offen. Der so dem Text verliehene graphische Charakter wird durch die Orthografie verstärkt: Die Sätze beginnen ohne Großbuchstaben und enden ohne Satzzeichen. Dadurch scheint der Text vorne sowie hinten „offen“ und bedingt langes Nachklingen des Gelesenen. Grafik und äußere Form – Zeilensprünge schneiden den Fließtext bei nicht einmal der Hälfte der Seite ab – verleihen den epischen Texten lyrischen Charakter.Dass in Wortkomposita wie „MobilitätsErfahrung“, „SchluchtUfer“ oder „ÜberwasserWasserfall“ beide Namen groß geschrieben werden, wirkt wie der Versuch der Gleichberechtigung beider Teile und zieht die Aufmerksamkeit zusätzlich auf diese Worte. Kapitelüberschriften befinden sich – fett gedruckt – im Fließtext.
Das zentrale Thema im mittleren Kapitel ist das Leben mit dem Vieh im Gebirge, hier wird auch das Rätsel um den Titel des Bandes aufgelöst: Nachsuche meint das möglichst rasche Auffinden von verletztem oder angeschossenem Wild in der Jagdsprache, der Terminus wird auch in der Biologie verwendet und hier als gezielte Suche nach Arten in neuen Gebieten verstanden. Zu Bildern der 10-blättrigen Serie „Flecken.Vieh“ wird nun von vermissten Tieren, Viehabstürzen, Kadavern, Notschlachtungen oder Totgeburten bei Kühen aus verschiedenen Erzählpositionen berichtet. Auf oft sehr direkte und ungeschminkte Weise wird von der Suche oder der ausbleibenden Suche nach zurückgebliebenen Tieren erzählt. Hier übt Hell auch indirekt Kritik an tierrechtlich bedenklichen Weisungen des Staates: Wurden früher verletzte Tiere noch vom Militär per Hubschrauber zur Behandlung ins Tal gebracht, so ist das heute nicht mehr der Fall und Viehhütende sind oft gezwungen, das verletzte Tier an Ort und Stelle Not zu schlachten, zu zerlegen und selbst als „schlachtwarme Last“ ins Tal zu tragen oder das tote Vieh ausfliegen zu lassen, „um das Karstwasser der Quellbereiche zu schützen“.
Das Almvieh führt ein geheimes Leben, so Bodo Hell in einer seiner Geschichten, und nicht nur von diesem bisher spärlich ausgeleuchteten Teil unserer Lebenswirklichkeit erzählen seine Texte. Nachsuche ist ein ungewöhnlicher Zugang zu einem vorbelasteten Thema: dem Ursprung-suchen und dem Zurück zur Natur-Gedanken. Hell und Schreyer schaffen es aber, sich das vom Konservatismus und der Tradition vielfach annektierte Kulturgut rückanzueignen und auf ihre Weise auszustellen.