#Prosa

Nachrichten aus einem toten Hochhaus

Antonio Fian

// Rezension von Alexander Kluy

Sorgsamer und raffinierter terminiert ist heuer wohl kein Buch auf die Tische der Buchhandlungen gekommen: „Nachrichten aus einem toten Hochhaus“, in dem ein großer Teil, 75 Buchseiten von insgesamt 115, Traumtexte ausmachen, skurrile, pittoreske, groteske, scheinwahre und beklemmend fiktive – dieses Traum-Buch wird nämlich am Tag des Traums ausgeliefert. Chapeau, Monsieur Fian, und Hut ab vor dem Droschl Verlag, der mutmaßlich den genau fünfmonatigen Abstand zum Geburtstag seines langjährigen Autors – Fian wird seit 33 (!) Jahren von Droschl betreut, mittlerweile in zweiter Generation – auch noch im Blick hatte!

 

Nun ist der Tag des Traums, um gleich dem alleroffensichtlichsten Irrtum entgegenzutreten, nicht dem Heiligen Sigmund gewidmet. Auch wenn der 1938 exilierte, in freudianischer Psychoanalyse hoch bewanderte Literaturwissenschaftler und Franz Grillparzer-Exeget Heinz Politzer in einem Brief an seinen Freund Friedrich Torberg irrtümlich, aber klarsichtig von „Siegmund“ schrieb – woraufhin sich beide schnell einig waren: Das 20. Jahrhundert war das Säkulum, das Freud erträumt hatte. Genauso wenig sollte man sich von Seminarangeboten schnell redender Personal Coaches täuschen lassen – „Dream Day“ ist nicht der Tag, an dem sich Karriereträume real auskristallisieren.
Nein, der „Dream Dray“ ist Besinnungs- und Memorialtag einer der größten Reden, die auf nordamerikanischem Boden gehalten wurden. Und zwar jener zum geflügelten Wort gewordenen „I have a Dream“-Ansprache Martin Luther Kings zu Füßen des Lincoln Memorial in Washington am 28. August 1963. Rund 250000 Menschen hatten sich versammelt, um dem Kopf der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zuzuhören. Und die mit Bibelzitaten und ausschwingender Rhetorik gespickte Rede ist eines der zentralen Dokumente des von Rassismus und Hass bis heute tiefgepeinigten Nachkriegsamerika. „Ich habe einen Traum“, so Reverend King. „Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einem Land leben, in dem sie nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden, sondern nach ihrem Charakter.“ James Reston, damals Reporter der „New York Times“, fasste den Eindruck, den diese Rede hinterließ, prägnant zusammen: „Dr. King berührte alle Themen des Tages, nur besser als jeder andere. Seine Ansprache war voller symbolischer Bezüge zu Lincoln und Gandhi und den Satzkadenzen der Bibel. Er war zugleich kämpferisch und traurig, und er entließ die Menge mit dem Gefühl, dass sich die lange Anreise gelohnt hatte.“ Ein Jahr später wurde King der Friedensnobelpreis zugesprochen.
Nun, dieser Preis ist eine der wenigen Kürungen mit Lorbeer, die der gebürtige Kärntner Fian nicht erhalten hat, noch nicht. Dafür erhielt er unter anderem zugesprochen: den Reinhard-Priessnitz-Preis, den Humbert-Fink-Literaturpreis, den Johann-Beer-Literaturpreis, und er war für den prestigereichen Deutschen Buchpreis 2014 nominiert (für einen Roman, „Das Polykrates-Syndrom“, was den das Dramolett im Alleingang in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur Introduzierenden von Herzen erheitert haben muss).

Das Werk Fians, mittlerweile ein Mittsechziger und noch immer hochproduktiv, wovon der regelmäßige Abdruck seiner die Zeit, die Menschen und deren Gerede gnadenvoll genau abbildenden Dramolette zeugt, nimmt immer schärfer konturierte Formen an. Man erkennt von Band zu Band genauer das Themen-, Genre- und Sprachgespinst, dessen innere Bezüge, die ‚temi con variazioni‘. Wobei eben die Variation, das Aufgreifen, Neubehandeln, Wieder-damit-Spielen ein wesentlicher Werk-Faktor ist, vielleicht sogar der wesentliche. So auch in Nachrichten aus einem toten Hochhaus.

Fian veröffentlichte 2009 den Band „Im Schlaf. Erzählungen nach Träumen“. Die erste Sektion in seinem jüngsten Buch lautet nun: „Im Schlaf II. Neue Erzählungen nach Träumen“. Geboten werden Traumprotokolle, die Traumsequenzen zu sein scheinen und es vielleicht sind, oder auch nicht. Details und einzelne Elemente reichen vom Grotesken bis zum Widerspenstigen, von Familie bis zu Widernatürlichem. Im ersten Text wacht Fian in einem schneeweißen Zimmer auf, alles ist weiß, dann taucht ein Pfleger auf mit einer Spritze, deren Inhalt tödlich ist – aus dem vertraglich vereinbarten Suizidprojekt gibt es keinen Ausstieg. Im zweiten ruft Werner Kofler bei Fian an, zu später Stunde wie üblich – dabei ist Kofler schon mehr als ein Jahr tot. Er will Zigaretten geliefert bekommen, eine Stange Pall Mall („die roten, nicht die blauen!“), und legt auf. Der verqueren Traumlogik entsprechend, nannte Kofler keine Lieferadresse. Also sie ins frühere Stammcafé Limbeck bringen? Und würde dort Kofler, ebenfalls aus Kärnten, dessen literarischer Furor ihm eigentlich die Hölle verhieß, rauchend etwas vom Leben nach dem Tode erzählen? Auch andere namhafte Kulturschaffende und Intellektuelle treten auf, Robert Menasse beispielsweise, dessen Seminar im Traum fast überbesucht ist, während der Andrang zu Fians davor gehaltener Lesung als schütter zu bezeichnen noch höflich wäre. Es gibt auch Politisches und Skatologisches, merkwürdige Begebenheiten, Überfälle durch besinnungslos lärmende, gänzlich unbekannte Verwandte und den freiwilligen Transport eines Kopfes, von dem sich sein Besitzer gern trennt. Oder eine Lesung, während der die ganze Zeit aus einem Radio lautstarke Musik laufen soll und Fian wutentbrannt entfleucht, obwohl diese Lesereihe angeblich ursächlich auf Echtzeit-Finanznachrichten angewiesen sei. Und es gibt einen Schreibaufenthalt in Altaussee, das bei der Ankunft gar nicht nach Altaussee aussieht, vielmehr nach einer grindigen Betonsiedlung vergangener Jahrzehnte, in der sich Fian im Regen enthemmt verläuft.

Zu ganz großer Form läuft Antonio Fian dann in den zwei kürzeren Prosastücken „In der Mur-Mürz-Furche“ und dem Titel gebenden „Nachrichten aus einem toten Hochhaus“ auf.
Einst hantierte er in „Was seither geschah“, dem zweiten Band mit versammelten Dramoletten, als literarischer Monteur nicht nur mit parodistischen Mitteln, sondern ausgiebig auch mit wörtlich wiedergegebenen Zitaten und Zitatbausteinen. So wandelte er auf den Spuren von Karl Kraus, dem er mit der „Wohnbaukantate (Neufassung)“ eine Hommage widmete. Während der Gründer und Herausgeber der „Fackel“ die sozialistische Gemeindebau-Jubeldichtung der 1920er Jahre ätzend persiflierte, so dass sie in all ihrer Jämmerlichkeit ohne Kleider aufschien, nahm sich Fian die malerische, vulgo: so offenherzig kitschige Architektur von Arik Brauer et Compagnie vor.

„In der Mur-Mürz-Furche“ ist eine hin- und wegreißende Ansprache eines Zugreisenden von Wien nach Spittal an der Drau im Speisewagenabteil. Man möchte sich diesen erheiternd verheerenden Sprechtext allzu gern als Ein-Personen-Stück auf der Bühne vorstellen! Verheerend ist dies deshalb, weil in einem Orkus aus Elfriede Jelinek-, Thomas Bernhard-, Andreas Mölzer- und Walter Buchebner-Zitaten hier Landschaft, Menschen und Österreich in einer rasanten Suada versinken. Martin Pollack analysierte vor Jahren „kontaminierte Landschaften“ – hier haben wir das furiose literarische Pendant. So überschwänglich der Sprecher alles evozierend beschwärmt, desto entsetzlicher, grauenhafter, abstoßender ist das Resultat.

Nachrichten aus einem toten Hochhaus spielen in der ungarischen Stadt Pécs, dort entstand – ein Entstehungszitat wie aus Büchern Peter Handkes – dieser Text im März 2015. Doch gibt es dieses Pécs tatsächlich? Den Protagonisten, der sich dort infolge eines Stadtschreiberstipendiums aufhält und über Poetikvorlesungen in Klagenfurt räsoniert, in deren Mittelpunkt Werner Kofler stehen soll? Mit Kofler wird ein kunstvoller Bogen zum Auftakt geschlagen. Denn auch diese Schlussprosa mutet an wie ein Traum. Der Protagonist sieht das 25-stöckige, seit fast einer Generation unbewohnte und verfallene Hochhausgebäude. Doch niemand sonst, erst recht keiner der Einheimischen und Ortsgeschichtskundigen, weiß etwas davon. Das Ganze ist eine Etüde über Literatur und Erfindung von Welten, den Ersatz der Realität durch Fiktion und Arbeit als Sinnlosigkeit, denn die Wirklichkeit schert sich nicht darum, Beleg einer Werner Koflerschen Behauptung, gegen Erfundenes ausgetauscht zu werden. Was am Ende bleibt, sind Schall und Wahn und die Ruhmlosigkeit des Künstlers. Zum Glück verbirgt sich dahinter nicht Antonio Fian, der Mann aus Wörtern. Oder doch? Hat er sich am Ende selbst erfunden – und geträumt? Sich, dieses Buch, uns?

Antonio Fian Nachrichten aus einem toten Hochhaus
Erzählungen.
Graz: Droschl, 2020.
120 S.; geb.
ISBN 978-3-99059059-1.

Rezension vom 31.08.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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