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Nachricht vom Verlust der Welt

Inge Rowhani-Ennemoser

// Rezension von Sabine Mayr

Im Frühjahr 2000 besichtigt Inge Rowhani-Ennemoser das Haus in der Herklotzgasse 21 im 15. Wiener Gemeindebezirk, in dem ihre Mutter Marie gelebt hatte. In einem Lagerraum im Parterre entdeckt die Autorin stapelweise Auswanderungskarteien jüdischer Familien aus den Jahren 1938 und 1939, die das Leid und die Verzweiflung der vielen Tausenden um Ausreise Ansuchenden erschreckend verdeutlichen. Die Auslöschung der jüdischen Vergangenheit Wiens hat begonnen.

Als Marie, die für ihre Eheschließung mit dem jüdischen Postbeamten und Kommunisten Georg Flohr 1935 zum Judentum übergetreten war, mit diesem die Hauswartwohnung bezog, war das Gebäude bereits seit drei Jahrzehnten im Besitz der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde und ein Zentrum des jüdischen Lebens in Fünfhaus. Dieses Gebäude nimmt Inge Rowhani-Ennemoser, Maries zweite, 1940 geborene Tochter, zum Ausgangspunkt für eine sehr einfühlsame und gleichzeitig Distanz gewinnende Darstellung des Schicksals ihrer Familie. Ihre Quellen sind persönliche Dokumente und Briefe aus dem Nachlass ihrer 1991 verstorbenen Mutter sowie Erzählungen ihrer 1930 geborenen Schwester Lotte.

„Der von der Mutter überlieferte Gang der Ereignisse hatte sich in meinen Vorstellungen zu einem Familienmythos verdichtet, der da lautete: diese Familie stand auf der ‚guten‘ Seite der Geschichte, auf der Seite der Opfer.“ (S. 16) Dieser Mythos hält der zeitgeschichtlichen Recherche nicht stand, stellt die Autorin einleitend fest und zeigt sich dennoch auch der Grenzen einer reflektierenden Erzählerin bewusst: „Beschreiben gibt Macht über die Toten. Die mir widersprechen könnten, sind tot.“ (ebd.)

Marie, 1911 im oberösterreichischen Strudengau geboren und seit 1927 in Wiener Haushalten beschäftigt, sorgte in der Herklotzgasse 21 für die Reinigung der Turnhalle des zionistischen Turnvereins „Makkabi“ und kochte in der „Ausspeisung für arme Juden „. Ihre Befürchtungen angesichts der politischen Entwicklung der Jahre vor dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich wurden von ihrem Mann nicht ernst genommen. Marie begann unter Angstzuständen und Depressionen zu leiden, ehe die Realität der Märztage Maries schlimmste Befürchtungen übertrifft.

Am 10. November 1938 drangen früh morgens NSDAP, SA und SS mit Hitlerjungen in das Haus ein, das zu einem Umschlagplatz für Informationen über die Möglichkeiten der legalen und illegalen Einwanderung nach Palästina geworden war und Menschen Unterschlupf bot, die vor der Gestapo flüchten mussten. Mit anderen Hausbewohnern wurde Georg für das KZ Dachau selektiert, wo man ihn bis April 1939 festhielt. Marie bemühte sich um seine Auswanderungspapiere und um eine „arische Vaterschaftserklärung“ für ihre unehelich geborene Tochter. Diese ließ sie mit einem Kindertransport nach Schweden bringen, worauf sich die Mutter und ihr Kind 17 Jahre lang nicht mehr sehen sollten. In den Wochen nach Georgs Freilassung und vor seiner Abreise mit einem „illegalen Transport“ in Richtung Palästina ging die bereits zerrüttete Ehe in die Brüche, im Jänner 1940 wurde das Paar geschieden.

Marie traf sich wieder mit ihrem früheren Freund Ottokar Ennemoser. Nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Inge im Juli 1940 in Amstetten, wo Ottokar als Kellner arbeitete, während er auf seine Einberufung zur Deutschen Wehrmacht wartete, heiratete das Paar. Im Dezember 1940 wurde Ottokar zur Ausbildung nach Prag eingezogen, wo seine anfängliche Begeisterung für den Nationalsozialismus bald verflog. Dem militärischen Drill zu entkommen und wieder bei seiner Frau und seinem Kind zu sein, war jetzt sein sehnlichster Wunsch, der nur für einige Tage in Erfüllung geht: um Silvester 1940/1941, im März und April 1941, als Ottokar bereits in Brünn stationiert war und gleich darauf über Danzig und Königsberg nach Ostpreußen verlegt werden sollte, und zum letzten Mal im Juni unmittelbar vor Hitlers Überfall auf die UDSSR. Unter Generaloberst von Küchler marschierte seine Truppe nun über Schialuen zu den Ostseehäfen und weiter nach Riga.

Als liefen zwei verschiedene Filme ab, die sich nur überschneiden, wenn Otto an der vordersten Front eingesetzt ist und voll Grauen das Erlebte schildert, kommentiert Rowhani-Ennemoser die unbegreifliche Diskrepanz zwischen den liebevollen 423 Briefen, die er während seines Wehrmachtsdienstes verfasste, und den zur gleichen Zeit in den besetzten Ländern durchgeführten Aktionen. Obwohl er nicht freiwillig diente, wiederholte er die von den Propagandakompanien entworfenen Verleumdungen. „Otto muss die Verbrechen der Einsatzkommandos, die sie an der jüdischen Bevölkerung begingen, gesehen haben. Seine verächtlichen Schilderungen weckten mein Misstrauen, einen bohrenden Verdacht, er habe sich daran beteiligen lassen. Ließ ich beim Lesen mehrmals die wenigen Briefstellen übersehen, in denen er sich distanziert oder Mitgefühl zeigt.“ (S. 200)

Im März 1942 fiel Otto vor St. Petersburg. Marie kämpfte ums Überleben, lernte Handarbeiten und Maschinenschreiben, repassierte Seiden- und Nylonstrümpfe, arbeitete in einer Hutfabrik, in einer Ziegelfabrik und fand in den Fünfzigerjahren wieder einen Lebensgefährten, mit dem sie zwei weitere Kinder aufzog. Doch Inge Rowhani-Ennemoser lässt ihre berührende biografische Spurensuche, die mit originellen Sprachbildern kritische Authentizität vermittelt, nicht in Worten der Versöhnung ausklingen. „Misstrauen, Verbitterung, Zukunftsängste, Depressionen haben sich endgültig in Mitzis Leben eingenistet. […] Das Schicksal hat alle ihre Pläne zunichte gemacht, ist ihr zu vieles schuldig geblieben.“ (S. 299 f.)

Nachricht vom Verlust der Welt. Spuren einer Familie.
Wien: Mandelbaum, 2004.
311 Seiten, gebunden.
ISBN 3-85476-113-9.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 07.07.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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