#Roman
#Prosa

Nachricht an den Großen Bären

Eva Schörkhuber

// Rezension von Erkan Osmanovic

Meine Stimme wird dir dabei helfen, weiter zu kommen.

Su sitzt im Zug. Ihr Ziel? Ein unbekannter Ort. Ihre Mission? Den Grenzübergang unerkannt passieren. Obwohl – nicht ganz. Denn auch die Geheimdokumente, die zwischen den Sitzen stecken, müssen den Transport unbeschadet und vor allem unentdeckt überstehen: „Wir werden durch die Landschaft gleiten, kein Ächzen mehr, keine Schwere mehr. Nur der Leichtsinn des Unterwegs, des Unterwegs-Seins wird uns etwas benommen sein lassen. Ich trage nur wenig bei mir. […] Die Papiere habe ich gut verstaut. Ich habe sie zusammengerollt und während des Abreisegetümmels zwischen zwei der gepolsterten Sitze gesteckt. Wenn sie mich kontrollieren, werden sie nichts bei mir finden. Ich gehe davon aus, dass ich kontrolliert werde. Obwohl ich eine gänzlich unauffällige Person bin. Nahezu.“ Doch Su ist eine von wenigen, die sich gegen Europa wenden. Ein Europa der Zonen. Ein Europa, in dem allein die Stärkeren das Sagen haben: Die Habgeier und die Meute.

Eva Schörkhuber zieht in ihrem neuem Roman Nachricht an den Großen Bären den Vorhang auf für eine mögliche Zukunft. Die Kulisse, vor der sich das alles abspielt: Europa. Doch nicht wie wir es kennen. Durch den Kontinent hindurch wurden scheinbar unsichtbare Vorhänge gezogen. Er wurde in vier Zonen aufgeteilt. Einerseits privilegierte A- und B-Länder, die sich das Schauspiel von ihren Logen aus ansehen. Andererseits Bewohnerinnen der C- und D-Nationen, die in den hinteren Reihen Platz nehmen müssen. Austausch zwischen den Zonen? Unerwünscht: „Die Grenzen, die einige Jahre zuvor gefallen sind, sind wieder aufgetaucht. Und innerhalb dieser Grenzen, in den jeweiligen Ländern, hat es zu brodeln begonnen. Die Angst vor den Fremden, den Geflohenen, ist auch auf die ein bisschen weniger Fremden übergeschwappt, auf Menschen aus Nachbarländern, auf Menschen, die schon jahrzehntelang in derselben Straße wohnen, aber anders leben, anderes glauben, anders aussehen. Europa ist zerfallen.“ Su hat sich mit anderen BewohnerInnen zusammengetan und möchte Widerstand leisten. Die Papiere, die sie in den Sitzen des Abteils versteckt, enthalten Informationen für ihr weiteres Vorgehen.

Schörkhubers Dystopie wird bei genauerem Blick zur wahr gewordenen Retropie. Jeder bleibt unter seinesgleichen: innerhalb des Landes, innerhalb der Zone. Ausnahmen? Natürlich! Billige Arbeitskräfte sind auch in den A- und B-Zonen weiterhin willkommen. Su wird beim Aufenthalt am Bahnsteig Zeugin dieses Zustandes: „Wir erreichen K. Auf dem Bahnsteig stehen ein paar Gestalten in dunklen Jacken und Mänteln. Sie tragen Koffer und Taschen aus abgewetzten Leder. Die meisten von ihnen sind wohl Saisonarbeiterinnen, Saisonarbeiter. Sie kommen aus den Teilen Europas, die jetzt die C- und D-Zonen sind. Sie sind dorthin nicht abgeschoben worden, sie sind dort geboren und werden in die A-und B-Zonen vermittelt. Als Reinigungs- und Pflegekräfte, als Erntehelferinnen und Kellner.“ Die Reinigungskräfte und Kellner beiben Komparsen, allerdings werden uns noch andere Schicksale vorgeführt.

Die Zugfahrt Sus bildet die Haupthandlung, sie wird jedoch nach jedem Kapitel unterbrochen von Erzählungen. In diesen Passagen tauchen wir ein in die Leben der anderen Passagiere des Zuges. So wird etwa die Geschichte von Felix erzählt. Vex, wie er von allen genannt wird, entfernt sich immer mehr von seinem Freundeskreis. Und auch im Schwimmtraining verfehlt er seine Ziele. Durch seinen Freund Sigi findet er Zuflucht bei Volker und dessen nationalistischen Kameraden: „Vex hatte das spannend gefunden und war mitgegangen. Der Zusammenhalt in der Gruppe gefiel ihm am besten. Aber auch die Vorträge, die Lauf- und Orientierungsübungen waren interessant. Manchmal gab es sogar Schießübungen. Sie trafen sich fast jeden Abend im Keller des Bierlokals. Der Besitzer sei ein Sympathisant der Bewegung, hatte Sigi gesagt.“ Die Bewegung zieht Vex immer stärker in ihren Bann. Alleine gemeinsames Sporttraining reicht nun nicht mehr. Schließlich ertränkt er einen schwarzen Burschen im Flussbad. Statt zu tadeln, bestärkt Volker seinen Schützling noch: „»Ich kann nicht genau abschätzen, was die machen werden damit. So weit sind wir hier noch nicht gegangen. Viele Ordnungshüter sind auf unserer Seite, und ein großer Teil der Öffentlichkeit auch. Aber bei Totschlag, bei Mord am hellichten Tag, hier in dieser Kleinstadt …«. […] Volkers Mund sprang auf, schnappte zu, seine Augen funkelten kalt. Felix! Ich bin stolz auf dich! Volker packte ihn am Kinn, zog seinen Kopf zur Mitte des Tisches. […] Ich vermittle dich an eine der Barrakuda-Gruppen. Mit der kannst du dann jeden Tag ins Feld ziehen.“

Doch nicht nur das gesellschaftliche Schlachtfeld gerät ins Visier Schörkhubers. Auch die einzelnen Menschen und ihre individuelle Machtgier werden ausgeleuchtet. So werden die Leserinnen bei einem der Einschübe Zeugen eines Gesprächs zwischen einem wohlhabenden Serienvergewaltiger und dessen nächstem Opfer. Dabei deckt Schörkhuber auf, welche Denkweise zur Dystopie geführt hat, und sie tut dies sprachlich exzellent: „Ich habe sie teilhaben lassen an meiner Potenz, an meinem Vermögen. Sie haben mir ihre Zeit gegeben und ich ihnen Arbeit und Geld. Dabei habe ich festgestellt, dass es ein Gut gibt, das sich noch besser anhäufen lässt als Grund und Boden, als Ländereien und Landschaften. Na, können Sie erraten, um welches Gut es sich handelt? Oh, ich sehe, Sie begreifen schnell. Tatsächlich, es handelt sich um Zeit. Besser gesagt um die Lebenszeit der Menschen. Wenn ich diese Zeit anhäufe, so wird mir anstelle von Neid Dankbarkeit entgegengebracht. Ich nehme den Menschen ihr Land und ihre Zeit, und sie bedanken sich dafür mit devotem Arbeitseifer.“

Nachricht an den Größen Bären lädt die LeserInnen ein, ein Stück der Zugfahrt selbst zu unternehmen. Sich auf die Ängste, Hoffnungen und Begierden der Menschen einzulassen und es bei dieser Erkenntnis nicht bewenden lassen. Unsere Erkenntnisgrenzen können, ja sollen wir überwinden, um das schlimmste zu verhindern. So sind die Worte der unbekannten Erzählerin an Su mehr als eine bloße Suggestion – sie sind ein Weckruf für uns als Gesellschaft: „Wenn ich eins sage, wirst du wieder im Zugabteil sitzen. Du wirst die Grenze passiert haben und dich in Gedanken auf das Kommende vorbereiten. Ich sage: eins.“

Nachricht an den Großen Bären.
Roman.
Wien: Edition Atelier, 2017.
200 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-903005-27-3.

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Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 13.06.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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