#Anthologie

NACHBEBEN JAPAN

Jürgen Draschan, Berlinde Vögel (Hg.)

// Rezension von Ilse Kilic

12 Standpunkte.

In Nachbeben Japan geht es um die Wahrnehmung und Darstellung von Japan – Japan nach der „Mehrfachkatastrophe“, nach Erdbeben, Tsunami und Reaktorunglück in Fukushima. Das Vorwort skizziert das Anliegen, einen Beitrag zur Erinnerungskultur zu leisten, nein, mehr als das: Es geht darum, dem so genannten kollektiven Gedächtnis eine Stütze zu geben, gewissermaßen auch exemplarisch verschiedene Ansätze vorzustellen, Ansätze des Bewältigens, des Umgangs mit dem Unerwarteten, dem Undenkbaren, das eingetroffen ist.

Kann man von Undenkbarem sprechen? Nein, nicht ganz: Die Flutwelle war nicht undenkbar, aber sie war unerwartet hoch. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen Artikel von Leopold Federmair in der neuen Zürcher Zeitung (5.4.2011), in dem er vermerkt, dass in der Panikstimmung derer, die nicht in Japan leben, eine gewisse Sensationslust mitschwingt. Die Kritik des in Japan lebenden Schriftstellers Federmair (er kommt auch in dem vorliegenden Buch vor, zum Besipiel als kundiger Ratgeber im Rahmen von Erwin Einzingers Reisebericht) stutzt die Dramatik der Ereignisse durchaus zurück, will dem Entsetzen der Zuschauer aus der Ferne Einhalt gebieten. Ich zitiere: „Fukushima ist aber, wie die Dinge jetzt stehen, nicht die Hölle. Atomkraftwerke mögen gefährlich sein, sie sind kein Teufelswerk, sondern eher der Gipfel instrumenteller Vernunft.“ Ich bin damals bei der Lektüre dieses Artikel erschrocken, vielleicht fühlte ich mich auch ein wenig ertappt. Denn auch für mich war Fukushima Anlass zu persönlichem Erschrecken gewesen, obwohl ich nicht in Japan war und nie dort gewesen bin. (Immerhin hatte jenes, mein Erschrecken auch zur Folge, dass ich in der Woche darauf unseren Strom zu Ökostrom ummeldete, zuvor schon lange geplant und immer wieder aufgeschoben.). Zugleich war natürlich klar, dass die mediale Berichterstattung eben nicht einfach nur „berichtet“, weil jedes „Berichten“ auch quasi ein Wettlauf mit den anderen Berichten ist. Punktum. Das Ausmaß der Katastrophe war jedenfalls kaum abzuschätzen, schon gar nicht aus der Entfernung und nicht, ohne genaueres über Strahlungsaustritt und Intensität zu wissen beziehungsweise über Radioaktivität mehr als nur ansatzweise informiert zu sein.

Wie also „die Katastrophe schreiben“, aus der Ferne, räumlich und – nun – auch zeitlich? Wie also dem „Starren“ auf das Leid der Anderen begegnen, dem (vielleicht anästhetischen) Schock entgegenwirken? Dem Anliegen gerecht werden, vielleicht in der eigenen Lebenspraxis nachforschen, was eine Katastrophe wie diese bedeutet, ganz persönlich? Aus welcher Position schreibt das schreibende Ich? Wer spricht? Und warum?
Die zwölf Beiträge finden auf diese Fragen sehr unterschiedliche Antworten, fokussieren andere Aspekte, stellen mitunter auch die Frage selbst neu und anders. Josef Winkler etwa erzählt eine Erfahrung des Abschieds, ganz ohne Radioaktivität, ohne Tsunami, durchdrungen von einer Distanz, die sich zwar zwischen Japan und Kärnten auftut, die aber grundsätzlich überall stattfinden kann, weil Menschen überall „Lost in Translation“ sein können, verloren in der Übersetzung, oder, wie die Autorin Yoko Tawada sagen könnte: Verloren in Überseezungen.
Ludwig Laher hingegen macht sein Zögern zum Thema und betont, dass jemand, der „sich in seinem Leben nur peripher mit einer fernen Gegend beschäftigt hat und sie irgendwann eher zufällig denn einem Drang geschuldet für zwei Wochen bereist“, sich eher zurückhalten sollte „mit öffentlichen Äußerungen über die so fremde Welt“. Er findet indes: „Dieselben entscheidenden Fragen rund um den Globus. Wie geht der Mensch mit dem Menschen um?“ Und auch ich hatte noch nie von den Burakumin gehört, jener Gruppe sozial ausgegrenzter Japanerinnen und Japaner, deren Ausgrenzung zum Teil auch heute noch wirksam ist.
Ja, wir sind einerseits Starrende, Erschreckende, Staunende, wir sind die Beschauerinnen jener „vielen kleinen Wunder“, die von einer „zentralen Unmöglichkeit“ betrieben werden (Ann Cotten), wir sind die „Anderswo Lebenden“, die vielleicht glauben gemacht werden, „uns könnte hier nie so was Schlimmes passieren“ (Sabine Scholl), ja, wir sind die, die „Eine gute Geschichte. Berührend. Empörend“ (Judith Brandner) festhalten, mit allen Zweifeln und offenen Fragen.
Als „Nie-in-Japan-gewesene-und-doch-über-die-Katastrophe-erschrockene“ Leserin finde ich die Bewältigungsarbeiten, dieses Auf-und-Nieder-Schreiben, dieses Schreiben jenseits und neben, gegen und über die Katastrophe durchwegs interessant (wenngleich mich nicht alle zwölf Beiträge gleichermaßen überzeugen, aber dies liegt ja auch im Wesen eines Sammelbandes, der Leserinnen und Leser mit einem Spektrum von Sichtweisen, Schreibweisen konfrontiert).
Eine Erweiterung erfahren würde das Thema allerdings mit Autorinnen und Autoren, die näher dran sind. Interessieren würde mich, wie Künstler und Künstlerinnen in Japan ihre Erfahrung zum Ausdruck bringen – gerade auch unter dem kritischen Blickwinkel, den Leopold Federmaier festhält: Was bedeutet es – ich verwende hier eine Formulierung von Susan Sontag – wenn wir „das Leiden anderer betrachten“ und wie schreibt sich der Unterschied zwischen Betrachtern und Betrachteten? Wie starren die „Angestarrten“ auf uns zurück?

Während ich diese Rezension schreibe, erreicht mich eine Botschaft des in Japan lebenden Künstlerkollegen Anton Manabe. Er zitiert einen Bericht von global 2000, nach dem die japanischen Behörden heute den ersten Fall von Schilddrüsenkrebs bei einem Jugendlichen bestätigt haben.

Jürgen Draschan, Berlinde Vögel (Hg.) NACHBEBEN JAPAN
Anthologie.
Mit Texten von: Xaver Bayer, Judith Brandner, Ann Cotten, Elfriede Czurda, Erwin Einzinger, Franzobel, Peter Glaser, Ludwig Laher, Hanno Millesi, Lydia Mischkulnig, Sabine Scholl, Josef Winkler.
Wien: Luftschacht, 2012.
144 S.; geb.
ISBN 978-3-902844-12-5.

Rezension vom 13.09.2012

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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