Mit Moor bzw. Moos nimmt Neuner eine der möglichen, aber unwahrscheinlichen Wortherkünfte von Moabit Bezug. Demnach sollen französische Hugenotten Anfang des 18. Jahrhunderts auf das slawische Wort moch oder mochaw (Moor/Moos bzw. moosig/sumpfig) vorgefunden und Moab gehört haben. Der vermeintliche Tigerkopf hingegen entpuppt sich als der Umriss der Insel – Moabit, ein Eiland der Glückseligen, des Vergnügens? Oder eine Insel foucaultscher Heterotopien?
Neuners Spurensuche beginnt mit einem „Filmriss“: Verkatert wacht er auf. Was war geschehen? Wo anfangen, welche Erinnerungen sind hängen geblieben? So nimmt er uns mit in ca. zwanzig unterschiedliche Kneipen und Kaschemmen des Stadtteils. Darunter etwa die 24-Stunden-Kneipe Die Quelle, in der ziemlich laut Schlager laufen, der Humpen, der Bierbrunnen oder auch Zum gemütlichen Laternchen.
Die Kneipenbesuche dienen nicht nur zum Selbstzweck. Sie stehen bei Neuner auch als Modell für das nicht-lineare Erzählen. Dabei verweist er auf den bekannten Autor und Filmemacher Alexander Kluge, der das Erzählen mit einer Kugel vergleicht. Darin sitzt ein Erzähler, der alles, was er sieht, beschreibt. Nebensächlichkeiten werden somit relevant. Der Clou: Die Horizonte bewegen sich, „die Kugel ändert ihre Gestalt, & der Erzähler wandert“. Ähnlich entstehen in Kneipen Geschichten. Denis Diderot und Joseph Roth lassen grüßen!
Doch diese Prosa ist auch eine Referenz an Die Insel von Peter O. Chotjewitz, dem dieser Text in memoriam gewidmet ist. Der im Jahr 2010 verstorbene Autor hat seinen Inseltext 1968 über West-Berlin veröffentlicht. Damals wurde das ummauerte West-Berlin als Insel mitten in der DDR begriffen. Parallelen zwischen beiden Texten zeigen sich teilweise in der Struktur: etwa Uhrzeitangaben, das Bärenauge; und die Texte sind selbstreferenziell. Natürlich sind bei Chotjewitz wie auch bei Neuner Kneipengeschichten und scharfzüngige Seitenhiebe auf Gesellschaftssystem und Politik vorhanden.
Wie in den vorhergehenden Neunerschen Texten (z. B. Ruhrtext) ist auch diese Prosa nicht einem Genre zuordenbar. Dies wird auch im Text reflektiert: Fiktion oder Dokumentation? Ist das wichtig? Was heißt überhaupt Realität? Und was heißt das über das alternative Erzählen?
Allerdings geht es auch um Storys von und in Kneipen sowie Reflexionen über einen Fragebogen, ob man Alkoholiker ist. Zudem das Sinnieren, ob Dichter im romantischen Sinn ständig auf inspirierende Droge sein müssen. Bei Neuner der Alkohol. Gehört das zum guten Ton eines Künstlers? Der dionysische Exzess? Die weitere Überlegung: Konnte es deshalb zu keiner proletarischen Revolution kommen, weil der Alkohol sie verhinderte? Diese und andere Gedanken stellt Neuner scharfsinnig an; meist in einem lakonischen Parlando-Stil, bei dem jedes Wort sitzt.
Fazit: Der in Moabit lebende Autor und Journalist Neuner hat mit diesem Text nicht nur eine Hommage, sondern auch eine Sozio-Kneipenkartografie von Moabit gezeichnet. Mit nebeneinander liegenden oder verschobenen Geschichten und Überlegungen. Dem Archivcharakter eines Moores vergleichbar. So stellt sich Neuner mit seinem assoziativen Stil nicht nur in der Tradition von Alexander Kluge, Dieter Roth, Peter O. Chotjewitz, sondern bildet etwa mit den Autoren Jochen Beyse und Robert Prosser eine eigene Literaturinsel, auf der man gerne anlegt.
Moor (Moos) ist ein anregender, vielschichtiger und im besten Sinne süffiger Text, der Lust auf mehr macht. Denn es sollen weitere kurzweilige Inseltexte folgen. Dann im Wiener Klever-Verlag.