#Roman

Monstrosa

Rhea Krčmářová

// Rezension von Marcus Neuert

Isabella Vlcek, Anfang dreißig, ist lyrischer Opernsopran, und ihre Stimme wäre eigentlich gut genug, um sich bereits mitten in einer glänzende Karriere zu befinden.

Dem entgegen steht jedoch ihre Leibesfülle, die nicht zu den immer mehr auf Äußerlichkeiten bedachten Bühnenkonventionen passt. Statt zu glanzvollen Auftritten in den Opernhäusern der Metropolen engagiert man sie zu Begräbnissen, wo sie den teuren Verblichenen ein Bach-Gounodsches Ave Maria oder Whitney Houstons Version von I Will Always Love You hinterher trällern darf.

Ihre Gesangslehrerin und Mentorin sieht die einzige Chance für ihren Schützling in einem psychotherapeutischen Klinikaufenthalt für Essgestörte, und lange Zeit hat Isabella damit zu kämpfen, überhaupt einmal recht einzusehen, dass sie tatsächlich ein Problem mit sich selbst zu lösen hat. Diät-Camps und Jo-Jo-Effekte begleiten sie seit ihrer frühen Jugend, inklusive ausgedehnter Fressattacken und anorektischer Episoden, und die junge Sängerin hat sich bereits weitgehend in der Unvermeidlichkeit ihres stetigen Körperzuwachses eingerichtet.

In der stationären Therapie trifft sie als einzige Adipöse ausgerechnet auf eine Gruppe von hungerdünnen Bulimie- und Anorexiepatientinnen, die im Verborgenen weiter daran arbeiten, sich buchstäblich zu Tode zu fasten und ihre zweifelhaften „Erfolge“ auch noch heimlich in entsprechenden Foren ins Netz zu stellen. Das hoffnungslos unterbesetzte therapeutische Personal zeigt sich weitgehend machtlos gegen den fortschreitenden Zerfall der Einrichtung.

Isabella wird, während sie, von nächtlichen Alpträumen geplagt, gegen die inneren Monster ihrer Essstörung kämpft, von den Magersüchtigen gemobbt und ausgegrenzt; für sie verkörpert die übergewichtige Sopranistin von Anfang an alles Ablehnens-, ja Hassenswerte. Sie halten, angefeuert von ihren virtuellen Followern, gar nächtliche Bann- und Fluchrituale über Isabella ab. Als sich dann auch noch ein geheimnisvolles Virus aus dem Fernen Osten bis in die abgelegene und ohnehin von ihrer baldigen Schließung bedrohten Klinik ausbreitet und den Betrieb lahmlegt, werden Isabella und ihre Widersacherinnen versehentlich nicht evakuiert, sondern in einem abgeschlossenen Trakt der Einrichtung vergessen. Isabella, von Fieberanfällen und der ständigen Suche nach Nahrung geplagt, mutiert schließlich tatsächlich zu dem physischen Monster, das die Gruppe der Magersüchtigen von Anfang an in ihr sieht. Das vorprogrammiert scheinende Unheil nimmt seinen Lauf, aber auf eine ganz andere Weise, als das Lesepublikum zunächst vermuten würde.

Rhea Krčmářovás dritter Roman Monstrosa befasst sich mit den Facetten von Essstörungen und den daraus resultierenden Irr-, Ab-, Um- und endlich auch Auswegen. Was auf den ersten Blick wie die Literarisierung einer Ratgeber-Thematik anmutet, entpuppt sich schnell als ein Textgefüge, dass vom Krisen- und Therapie- bis hin zum Horror-Roman reicht. In einem Radiointerview spricht die Autorin von eigenen Erfahrungen, die in die Handlung mit eingeflossen seien. Dazu trugen auch umfangreiche Recherchen bei. Schwerer als das wiegt allerdings die implizite Gesellschaftskritik, die Monstrosa zu einem lesenswerten Buch macht: thematisiert wird eben auch die sich selbst verstärkende Verblendung innerhalb von Social-Media-Blasen, die für Gegenargumente augenscheinlich komplett unzugänglich ist, die Scheinwelten virtueller Körperbezogenheit im Kontrast zur sehr realen Konfrontation des Individuums mit Mikroaggressionen bis hin zum übelsten Mobbing.

Die Protagonistin wie auch die meisten anderen Figuren in Krčmářovás Monstrosa sind weiblich; Monstrosa als reinen Frauenroman zu lesen, wäre allerdings eine unzulässige Verkürzung, zumal von der Problematik der Essstörungen sowohl in der Realität als auch im Buch auch Männer betroffen sind. Da ist zum einen der anorektische Skispringer Goran; ihn und Isabella verbindet kurzzeitig der verzweifelte Wunsch nach Nähe. Die Figur scheint an reale Vorbilder wie Vojtech Stursa oder Sven Hannawald angelehnt zu sein. Auf der anderen Seite steht der bulimische Bodybuilder Kevin, „der plumpe Buffo“, wie Isabella ihn bezeichnet, ein einfach gestricktes Gemüt steirischer Abkunft, der der beleibten Sopranistin ähnlich skeptisch-ablehnend gegenübersteht wie seine Mitpatientinnen. Der einzige männliche Therapeut hingegen, Herr Magister Neundlinger, wirkt komplett überfordert und ist, wie letztlich auch seine Kollegin Frau Dr. Wertheim und die Leiterin Frau Prof. Pirchner, nicht in der Lage, in dem sich immer mehr eskalierenden Konflikt zwischen den Magersüchtigen und Isabella zu vermitteln.

Krčmářová deutet für jede der Figuren eine plausible Leidensgeschichte und Gründe für ihr Verhalten an – da sind etwa die dreizehnjährige Elif, die ihre aufkeimenden lesbischen Empfindungen vor ihrer konservativen türkischen Familie geheim halten muss oder Caroline, die den grotesk anmutenden Rosenkrieg zwischen ihren inzwischen getrennten Eltern nicht verkraftet hat – und doch bleiben die Sympathien des Lesepublikums stets bei Isabella.

Der Roman ist bei aller Fokussierung auf das ernste zentrale Thema an vielen Stellen von Ironie geprägt: so probt Isabella etwa für einen geplanten Gesangswettbewerb nach ihrem Klinikaufenthalt während der therapiefreien Zeit in einer stillgelegten Aufbahrungshalle: „Großartig. Zuerst singe ich auf Friedhöfen, jetzt in der Pathologie.“ (S. 106) Auch die strukturelle Anlage von Monstrosa als Oper in drei Akten mit zahlreichen Szenen anstatt einer Kapitelfolge oder die zeugmatischen Beschreibungen von Abläufen im Klinikalltag tragen Ironie als Stilmittel in sich: „Nach dem Abendessen (Spaghetti Carbonara, garniert mit Parmesan und den Beschwerden der Therapiegruppe) beschließe ich, mit Goran zu reden.“ (S. 114) Es ist der Humor der Verzweifelnden, der hier aus Isabella spricht und das ganze Buch hindurch mit der Dramatik der sich zuspitzenden Handlung kontrastiert.

Isabellas Verwandlung im dritten Akt stellt einen klaren Bruch mit der akzeptierten Wirklichkeit dar. Das Abkippen der Handlung in den vom Klappentext versprochenen Body Horror bewerkstelligt die Autorin durch eine Entpersönlichung der Erzählperspektive – das Ich tritt zurück, ist nurmehr Beobachter, der Körper agiert losgelöst vom steuernden Willen: „Ein Grollen. Ein Lauschen in die Stille. Ein Rütteln an verschlossenen Türen, ein Stöhnen, ein Splittern, und Holz und Trümmer und Scherben.“ (S. 247) Die inneren Monster haben Isabella übernommen. Diese Metamorphose ist allerdings nicht irreversibel, und obendrein verwandeln sich auch die Kontrahentinnen aufgrund eines misslungenen Rituals vorübergehend in blutrünstige Schreckgestalten. Wie die Handlung jedoch am Ende – auch hier ganz große Oper – wieder in die Realität zurückfindet, sei an dieser Stelle nicht verraten.

Mit Monstrosa ist Rhea Krčmářová ein Roman gelungen, der Elemente des Fantastischen zur Versinnbildlichung realer sozialer und individueller Konfliktsituationen zu nutzen versteht. Gekonnt baut sie über zweihundertfünfzig Seiten lang eine subtile Spannung auf, die sich dann auf den letzten sechzig Seiten in einem furiosen und fesselnden Finale entlädt. Durch die gesellschaftliche Relevanz der zugrunde liegenden Thematik und den differenziert an die jeweiligen Handlungsstationen angepassten Stil vermeidet die Autorin jedoch ein Abgleiten ins Triviale – eine gelungene Gratwanderung zwischen guter Unterhaltung und angemessener Tiefenschärfe, die mit einem wiederum nicht ironiefreien „Fine dell‘ Opera“ endet.

Marcus Neuert, geboren 1963 in Frankfurt am Main, Studium der Kulturwissenschaften an der FU Hagen, lebt und arbeitet nach langjährigen Stationen in Hessen und Baden-Württemberg als Autor, Musiker, Literaturkritiker und Kulturarbeiter in Minden/Westfalen und Coswig bei Dresden. Für seine Texte, die in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften sowie in mehreren Einzelpublikationen veröffentlicht wurden (zuletzt: Imaginauten. Ein Morbidarium in 21 Erzählungen. Free Pen Verlag, Bonn 2018 sowie fischmaeuler. schaumrelief. anagrammatische miniaturen. edition offenes feld, Dortmund 2021), erhielt er u. a. Auszeichnungen bei PostPoetry NRW (2014 und 2022), beim Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis (2017) und beim Lyrikpreis Meran (2021). Weitere Infos unter marcusneuert.jimdo.com.

Rhea Krčmářová: Monstrosa
Roman.
Wien: Kremayr & Scheriau, 2023.
304 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-218-01408-3.

Homepage von Rhea Krčmářová

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin und Leseprobe

Rezension vom 29.10.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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