#Roman

Mongo

Harald Darer

// Rezension von Katia Schwingshandl

Mit der Polemik ist es ja so eine Sache. Falsch eingesetzt, erregt sie unnötig Aufsehen, verärgert, verschwendet Energien, greift Menschen an und erwischt sie, böse grinsend, mit voller Absicht am falschen Fuß.

Auch mit dem Wissen ist es so eine Sache. Wird man nach etwas gefragt, tut man oft so, als wüsste man. Wird man nicht gefragt, belässt man sich oft selbst gern im Glauben, alles zu wissen. Ein gefährlicher Umstand, kann einem doch in der Praxis erst Erfahrung zu sicherem Wissen verhelfen.
Wenn nun also ein Buch Mongo heißt, und einem schon der Titel die Kampfansage förmlich ins Gesicht brüllt, dann muss es wirklich gut sein. Dann muss der Autor, in diesem Falle Harald Darer, wirklich wissen, was er da tut.

Mit anderen Augen

Aber von Anfang an: Harrys Freundin (die Namensgleichheit von Protagonist und Autor ist wohl kein Zufall) Katja ist schwanger. Wo sich andere werdende Mütter unbekümmert freuen, weil das mit dem Wunschkind so schnell geklappt hat, ist Katja zunächst bedrückt. Zu sehr erinnert sie das Schwangersein an die Möglichkeit, ein Kind wie ihren Bruder zu bekommen. In ihrer Familie gibt es eine Prädisposition: Ihre Mutter bekam in jungen Jahren einen Sohn mit Trisomie 21. Zwar stellt sich relativ bald heraus, dass Katjas Tochter gesund sein wird. Doch die in Gang gesetzten Gedanken lassen sich so schnell nicht mehr stoppen.
Darer erzählt in ungezwungenem, ungehemmtem Ton verschiedene Schwänke aus Harrys Leben, Anekdoten seiner Begegnungen mit Menschen mit Trisomie 21, anfangs vor allem Geschichten aus seiner Kindheit, die die Scham und die Hilflosigkeit der Erwachsenen verdeutlichen; eine beschämende Hilflosigkeit, die sich bis zum Kind durchfrisst. Später ist es Harrys Beziehung zu Markus, Katjas Bruder, der den Inhalt dieses Romans bestimmt. Die Mutter, die ihre Tochter Katja mit ihren primitiven Ausdrücken regelmäßig auf die Palme bringt, erklärt sich und ihr Verhalten einmal, als sie mit dem Schwiegersohn alleine ist und ihm von jenem Arztbesuch erzählt, bei dem Baby Markus die Diagnose Trisomie 21 gestellt wurde: „Ich weiß, es ist traurig, aber von dem Moment an habe ich ihn mit anderen Augen gesehen, sagte sie. Alles, was ich vorher als positiv angesehen habe, war auf einmal negativ. Weil es ja nur aufgrund seines Mongolismus vermeintlich positiv gewesen ist. Es war nur deshalb so, weil er ein Mongo war. Ich hab lange gebraucht, ihn so zu nehmen wie er ist, aber ganz habe ich es nie geschafft, aber das weißt du ja selber, sagte sie. Und trotzdem, er war auch mein Mongerl, mein süßes, kleines Mongerl.“

Sommerlicher Herbstinfarkt

Darer, gebürtiger Steirer und Wahlwiener, unterlegt seinen lockeren Erzählstil, in dem manchmal und im allerbesten Sinne Wolf Haas durchklingt, mit ur-österreichischen Ausdrücken. Da steigen wem die Grausbirnen auf, da ärgert sich wer über das Gschisti-Gschasti, manches macht Harry „gefeanzt“, dem Papa ist die Lebensphilosophie, in der Menschheit gebe es ohnehin ein „Trotteldrittel“, ob Nackenfaltenmessung hin oder her, nicht auszureden und der Schwiegermama das unerträgliche Wort „tupfen“ nicht. Besonders schön wird es aber, wenn Markus zu Wort kommt. Der hat sich ebenfalls früh ein Lebensmotto zurecht gelegt (dessen wesentliche Bestandteile: eine Katze, etwas zu essen und Zeitungen) und leitet seine Sätze meistens ein mit „AH, ICH WEISS WAS“ – wobei Darer mithilfe von Großbuchstaben noch einmal besonders hervorhebt, dass man bei Markus eigentlich selten wissen kann, was er denn jetzt weiß, was wiederum eine ganz eigene und unheimlich befreiende Art von Komik auslöst. So wird jene höllische Zugfahrt, die Markus fatalerweise alleine antritt, um seinen Schwager in Wien zu besuchen, und auf der er geschlagene zwei Mal falsch aussteigt, zugleich absurd komisch: Die Menschen in der Umgebung zeigen sich wenig hilfsbereit, als Markus ihnen auf Harrys Wunsch hin das Handy in die Hand drückt, um von ihnen zu erfahren, wo Markus sich befindet, und als Markus endlich an der – zwar immer noch falschen, aber immerhin – Station in Wien aussteigt und geduldig darauf wartet, dass Harry ihn abholen kommt, erwischt ihn ein Regenguss und er ist von oben bis unten komplett nass. Sein lapidarer Kommentar beim Anblick Harrys lässt breit grinsen: „AH. ICH DENKE GERADE WAS. DER SOMMER HAT EINEN HERBSTINFARKT.“

Inklusion statt Integration

Es ist auch diesen unterhaltsamen Passagen zu verdanken, dass der Ernst hier ein leichteres Spiel hat. Verhandelt doch Darer in dem sich locker-flockig gebenden Text so harte Themen wie Euthanasie, Pränataldiagnosik, Spätabtreibung, aber auch Sexualbegleitung bei Menschen mit Behinderung – und nimmt sich bei keinem davon auch nur ein Blatt vor dem Mund. Einmal lässt er Harry mit Markus einen Ausflug nach Hartheim unternehmen, sie machen eine Führung durch das Schloss und werden dabei von einer Schülergruppe flankiert. Als sich beim Gespräch mit dem Guide herausstellt, dass der Bruder eines Schülers schwer behindert ist, und plötzlich die Frage im Raum schwebt: „Wozu ist er denn dann wirklich da, wenn er nichts anderes tun kann, als herumliegen und in die Luft schauen?“, halten Lesende wie die gesamte Schulklasse den Atem an. Die Antwort auf die Frage ist so simpel wie entlarvend:“Mein Bruder ist dazu da, damit wir ihn lieb haben können und damit er uns liebhaben kann!“ So einfach ist es nämlich. Markus kommentiert auf der Heimfahrt, nach langem Schweigen: „DAS NÄCHSTE MAL GEHEN WIR WIEDER IN DEN PRATER, DA IST ES LUSTIGER.“

Darer hat ein Manifest für Inklusion geschrieben, für die Sichtbarkeit, für das Leben mit Menschen mit Behinderung, weil Integration schon lange nicht mehr reicht. Ein Manifest, das vor allem als Schullektüre gut aufgehoben wäre, denn Darer spricht in diesem großartigen, aufrichtigen Buch alles das aus, was sich Kinder, wenn sie älter werden, irgendwann nicht mehr auszusprechen getrauen. Bis sie schließlich zu Erwachsenen werden, die im Alltag – wenn auch unterbewusst – hervorragend die Existenz von Menschen mit Behinderung auszublenden wissen. Warum wir die Menschen, die mit Gehandicapten arbeiten, so scheinheilig schätzen? Vor allem, weil wir die Arbeit selbst nicht machen wollen (siehe Leseprobe). Warum wir erleichtert sind, wenn Menschen mit geistiger Behinderung wieder aus unserem Sichtfeld verschwinden? Weil sie ein unerwünschtes Abweichen einer eingelernten Norm darstellen.
Ja, Mongo ist eine Kampfansage, eine Kampfansage gegen die vorherrschende Ignoranz. Ja, die geschilderte Erfahrung ist persönlich, sie ist wertvoll und authentisch. Ja, Darer weiß, was er tut. Und ja, dieses Buch sollte unbedingt gelesen werden.

Harald Darer Mongo
Roman.
Wien: Picus, 2022.
216 S.; geb.
ISBN 978-3-7117-2119-8.

Rezension vom 16.03.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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