#Sachbuch

Mobilmachung 1914

Matthias Steinbach (Hg.)

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl / Christine Schmidjell

„Dieses Buch will nichts beweisen und nichts rechtfertigen“, heißt es zu Beginn des Vorworts (S. 7), das wenig Hilfestellung für die Navigation durch die unkommentierte Zusammenstellung von kurzen Textauszügen aus äußerst heterogenen Kontexten bereitstellt. Mobilmachung 1914. Ein literarisches Echolot ist der Titel der Sammlung, der allzu deutlich bei Walter Kempowskis Projekt Anleihe nimmt. „Der Begriff des ‚Echolots‘, der eigentlich für ein auf See verwendetes Gerät zur elektroakustischen Messung von Wassertiefen steht, wird hier auf das Ausloten wechselnder Tonfälle der literarisch manifest gewordenen Erfahrungen von 1914/15 übertragen“ (S. 15), so der Herausgeber. Doch was bezeichnet „literarisch manifest gewordene Erfahrungen“ genau?

Es seien „vornehmlich autobiographische Texte und literarische Selbstzeugnisse deutscher Sprache – doch lassen sich darunter Romane wie Joseph Roths Radetzkymarsch oder Glaesers Jahrgang 1902 in gleicher Weise fassen wie Harry Graf Kesslers Kriegstagebuch oder Erich Kästners harmlose Autobiographie Als ich ein kleiner Junge war? Und womit ist genau zu rechnen, wenn es heißt, die Sammlung „realisiere sich über das Prinzip der Gleichzeitigkeit und Gegenüberstellung im chronologischen Nach- und Nebeneinander“(S. 15)? In jedem Fall sind gute kulturgeschichtliche Grundkenntnisse von Vorteil, denn die Angaben nach den Textschnipseln beschränken sich auf Autornamen und Werktitel. Kennt man den Kontext und vor allem das jeweilige Alter des Schreibenden nicht, kann man zwar im angefügten biobibliographischen Teil nachblättern, aber das ist doch mühsam.

Dabei ist es eine entscheidende Information, ob eine briefliche Mitteilung wie „Dieser Krieg ist bei aller Scheußlichkeit doch groß und wunderbar, es lohnt sich, ihn zu erleben“ (S. 153) von einem 16-jährigen Gymnasiasten stammt, der sich der flächendeckenden Kriegspropaganda nicht zu entziehen vermag, oder, wie hier, im Oktober 1914 vom 50-jährigen Soziologen Max Weber im sicheren Hinterland niedergeschrieben wurde. Es ist ein gravierender Unterschied, ob der 44-jährige Ernst Barlach am 29. August 1914 an den Verleger Reinhard Piper schreibt: „Das Erleben dieser ganzen Zeit seit 1. August kann ich nur einem großen Liebesabenteuer vergleichen, so erschüttert und entselbstet es mich.“ (S. 119), oder Carl Zuckmayer im Rückblick über sich selbst als Mittelschüler meint: „Für uns war das Ganze ein gewaltiger Spaß. Die Uniform gab auch dem schlechtesten Schüler noch einen Zug von Manneswürde, gegen die der Lehrer machtlos war.“ (S. 93) Wenn man das Lehrer-Schüler-Verhältnis im Zeichen des Rohrstabs präsent hat, ist das eine durchaus nachvollziehbare Reaktion.

Ein gewisses Unbehagen erzeugt auch die Unsicherheit über die Textsorten, die hier, Äpfel wie Birnen, präsentiert werden. Wenn gleich zu Beginn Gustav Meyrinks Erzählung Die Erstürmung von Sarajewo aus dem Jahr 1908 eingespielt wird, die von fast prophetischer Vorausschau ist, weshalb sie aus der Neuausgabe der Sammlung Des deutschen Spießers Wunderhorn 1917 auch entfernt werden musste, wird überhaupt nicht klar, dass sie sechs Jahre vor Kriegsausbruch entstand, im Anhang erfährt man nur, dass sie in der Ausgabe von 1913 enthalten war. Wenig später wird dann Stefan Zweig mit einer langen Passage aus seiner im amerikanischen Exil geschriebenen Autobiographie zitiert, die mit „Die Welt ist von Sinnen!“ (S. 49) anhebt. Das entspricht dem Bild als Friedensfreund der ersten Stunde, das Zweig von sich selbst überliefert haben wollte. 1914 freilich war das ganz anders, und das wird im Lauf des Buches auch sichtbar. „Die deutschen Siege sind herrlich“ (S. 112), notiert Zweig am 25. August 1914 im Tagebuch. „Manchmal glaube ich, zu klein zu sein für diese Zeit, die stählerne Menschen will“ (S. 148), schreibt er am 5. Oktober 1914 an Paul Zech, und noch am 21. Februar 1915 im Tagebuch: „Man kann sich da gegen eine große Begeisterung und einen deutschen Stolz nicht wehren“ (S. 205).

Unheroischere Worte findet Carl Zuckmayer in seiner Autobiographie, wo er von einer „Infektion“ (S. 52) der jungen Gymnasiasten spricht und keine Illusion aufkommen lässt über den Mythos von der Kameradschaft „da draußen“: „[…] von den ‚alten Männern‘, den Kameraden, half einem keiner. […] Das Wort ‚Kriegsfreiwilliger‘, das in der Heimat immer noch einen edlen Klang hatte, war hier draußen ein Schimpfwort“ (S. 154). Ähnliches berichtet mit stärker gekränktem Unterton Ernst Wiechert (S. 187), und auch Robert Musil ist von Moral und Zusammenhalt der Truppe rasch desillusioniert (S. 111). Andere sind freilich unbelehrbar. Joachim Ringelnatz versucht unverdrossen, endlich an die Front zu kommen, im November 1914 ist er schon von „recht schiefer Laune“ (S. 170), weil es ihm nicht gelingen will. Am 20. Juni 1915 reicht er ein weiteres Gesuch um „Allerhöchste gnädige Abkommandierung an die Front“ (S. 233) ein.

Ein prinzipielles Problem bleiben die Unterschiede zwischen mehr minder authentischen Aussagen – wie geschönt immer sie sein mögen, sei es aus selbstdarstellerischen Gründen in den Autobiographien oder aus Zensurängsten in den Briefen – und jenen Passagen, die Figurenrede wiedergeben. Das mag sogar auf Ernst Jünger zutreffen, ganz bestimmt aber eben für Ernst Glaesers Roman Jahrgang 1902, der die Kluft zwischen der Generation der kriegsbegeisterten Väter und den (zunächst) noch nicht wehrfähigen Söhnen thematisiert, ähnlich wie das Horváth in einer autobiographischen Notiz ausgedrückt hat. Horváth kommt in der Sammlung nicht vor, oder allenfalls indirekt in einer Szene aus dem Hinterland: Vor der ersten Kriegsweihnacht sind Bleisoldaten restlos ausverkauft (S. 186), wie im Geschäft des Zauberkönigs in Geschichten aus dem Wiener Wald.

Eine Prämisse des Herausgebers ist es, nur Texte aus leicht zugänglichen Ausgaben zu verwenden. Das mag leserfreundlich gedacht sein, ist aber doch auch bedauerlich, denn Neuentdeckungen sind damit nicht möglich, freilich kommen auch viele jener Texte nicht vor, die gerade in den letzten Jahren wieder ausgegraben wurden, etwa Siegfried Kracauers großer Antikriegsroman Ginster und auch Max Brods Stefan Rott oder Das Jahr der Entscheidung. Doch eine derartige Zusammenstellung muss immer eine Auswahl sein und die ist stets subjektiv.

Dass sie politisch breit gestreut ist, ist eindeutig von Vorteil. Oft kommen entscheidende Aspekte von politisch ,problematischen‘ Autoren. „Ich wußte, was ich zu tun hatte. Jedermann wußte, was er zu tun hatte“, heißt es in Ernst von Salomons Die Kadetten (S. 63) – und das ergab 1914 eben für viele eine entlastende Lebensperspektive. Salomon wurde später beim Prozess gegen die Mörder Walther Rathenaus verurteilt und war Ende der 1920er Jahre in der rechtsradikalen Landvolk-Bewegung tätig. Aufrüttelnd sind auch Aussagen wie: „Kunst? Das ist nun alles aus und lächerlich geworden. In alle Winde zersprengt. Das hat alles nun keinen Sinn mehr“, wie Hugo Ball am 7. August 1914 in einem Brief schreibt. (Der Kulturhistoriker Egon Friedell meinte im übrigen nach der Beschießung der Kathedrale von Reims durch die Deutschen im September 1914: „dieses ganze Geschrei über ,Zerstörung von Kunstwerten’“ sei „in dieser jetzigen Zeit etwas vollkommen Läppisches“.) „Großes Getöse der Feinde wegen Reims! Dabei war die Stadt in deutscher Gewalt und es geschah ihr nicht der kleinste Schaden. Ins Feuer kam sie erst, als die Franzosen Artillerie darin verbargen. All das Journalistengeseufze ist zum Speien. Äpfelernte“ (S. 143), notierte am 23. September 1914 sogar Hermann Hesse, der ansonsten eher moderate Töne anschlug, auch wenn er noch am 26. Dezember 1914 in einem Brief meinte: „Die moralischen Werte des Krieges schätze ich im ganzen sehr hoch ein. Aus dem blöden Kapitalistenfrieden herausgerissen zu werden tat vielen gut, grade auch Deutschland, und für einen echten Künstler, scheint mir, wird ein Volk von Männern wertvoller, das dem Tode gegenübergestanden hat“ (S. 189).

In manchen Formulierungen glaubt man schon den Katzenjammer danach mitzulesen. „Ja, wir leben in einem Rausch des Gefühls. Die Worte Deutschland, Vaterland, Krieg haben magische Kraft, wenn wir sie aussprechen, verflüchtigen sie sich nicht, sie schweben in der Luft, kreisen um sich selbst, entzünden sich und uns“ (S. 103), so Ernst Toller. Da läuft beim Lesen gleichsam automatisch als Tonspur die Larmoyanz seines Stückehelden Eugen Hinkemann mit, dem symbolischen Kriegskrüppel: Der Krieg hat ihm seine Genitalien weggeschossen, der Kampf ,Mann gegen Mann‘ mündet in die Entmannung, ein schrilles Bild für das an den Fronten implodierte Patriarchat.

Am 1. Oktober 1914 schreibt Thomas Mann in einem Brief „[…] ich habe Augenblicke, wo mir graut, wo ich zweifle“ (S. 146). Solch vorsichtige Formulierungen können der Angst vor Zensur geschuldet sein. „Wir wenigen, die wir nicht von dem allgemeinen Taumel schwindlig geworden sind […], haben jetzt einen schweren Stand“ (S. 155), schreibt Erich Mühsam am 18. Oktober 1914 in seinem Tagebuch, und am 11. November: „Endlich mal ein Mensch, der den Krieg ohne Befangenheit beurteilt und also tödlich haßt.“ (S. 168) Der Erste Weltkrieg war auch eine Art Einübung in die Vorsicht, die nach 1933 dann über Leben und Tod entscheiden konnte: Wie ist das Gegenüber eingestellt? Ist Denunziation zu befürchten?

Fast befreiend offen spricht sich da oft die Gegenseite aus, Oswald Spengler etwa wettert in einem Brief vom 25. Oktober 1914 gegen die „Unehrlichkeit und Verlogenheit unserer Pinsler und Schmierer“, die bis vor kurzem sich noch „gegen Krieg, Adel, Militär, Glauben, Deutschland […] geschimpft“ haben, nun aber machen „alle Anarchisten und jüdischen Nihilisten […] Geschäfte in patriotischen Ekstasen“ (S. 161). Unbelehrbar martialisch gab sich Max Beckmann in seinen Briefen. „Heute war es sehr interessant. Ein englischer Flieger hat 300 Meter von mir […] drei Bomben auf den Bahnhof geworfen. Dieses wilde Leben, was da entfesselt wurde“ (S. 208) – und es mag wohl auch ein paar entfesselte Tote gegeben haben, was Beckmann nicht anficht, solange über ihm „weiter die Kugeln musizierten“ (S. 229). Ernst Jünger notierte am 29. März 1916 in seinem „Kriegstagebuch“, das auch späterhin etwas ins Coole auffrisiert worden sein mag: „Das Jahr kann ich wohl sagen, kann ich ungetrübt feiern. Mir macht das Kriegsleben jetzt grade den richtigen Spaß, das ständige Spiel mit dem Leben als Einsatz hat einen hohen Reiz, wenn die allgemeine Lebensführung dabei einigermaßen günstig ist“ (S. 256) – wie immer er das für sich definiert haben mag. Aus heutiger Sicht viel beklemmender lesen sich seine ästhetisierenden Behübschungen der Todesszenarien, etwa wenn er eine „zerschossene Mühle im Bachgrunde“ als „unheimliches Stimmungsbild à la Böcklin“ (S. 203) beschreibt. Alfred Polgar hatte recht: Ärger als die Trompeter sind die Harfenisten des Krieges.

Hinter allem aber steht der „seltsame ,Mannsrausch‘ […]. Dessen sie alle sich bewußt waren, ohne mit einem Gedanken, einem Widerstand daran zu rühren.“ So heißt es in Marie Eugenie delle Grazies 1919 erschienenem Antikriegsroman Homo … Der Roman einer Zeit, der hier nicht vorkommt, weil er nie wieder aufgelegt wurde, also nicht greifbar ist. Es ist dieser „Mannsrausch“, weshalb sich Alfred Döblin – wie Karl Kraus durch Kriegsberichterstatterinnen wie Alice Schalek – vor allem durch weibliche Ärzte gestört fühlt. „[…] zwei Berliner Ärztinnen sind drolliger Weise auch hier, freiwillig mit besonderem Vertrag, haben auch Stationen wie wir, also die Ärztenot. Man ißt in einem bestimmten Hotel gemeinsam, – ich mache nicht mit, oder nur gelegentlich. Wer soll diese Gesellschaft in der Nähe aushalten.“ (S. 196) Ein wenig verlängert sich diese Haltung auch in der vorliegenden Sammlung mit der beschämend geringen Präsenz von Autorinnen – schwer zu glauben, dass außer Käthe Kollwitz und Evelyn Blücher von Wahlstatt in greifbaren Editionen nichts zu finden gewesen wäre.

„Hier höre ich Fürchterliches erzählen von jungen Soldaten, – mein Gott, irgendwo ist das eigne Herz mitschuldig an aller Gewalt da draußen, die Schuld wird immer größer – es werden Jahrhunderte der Sühnung kommen“ (S. 199), schrieb Rilke am 18. Jänner 1915 in einem Brief. Mit dieser Haltung sollte er recht allein bleiben.

Matthias Steinbach (Hg.) Mobilmachung 1914
Ein literarisches Echolot.
Stuttgart: Reclam, 2014.
288 S.; brosch.
ISBN 978-3-15-020287-6.

Rezension vom 02.07.2014

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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