#Prosa

Mitten auf der Straße

Michael Köhlmeier

// Rezension von Christine Schranz

Erstmals hat Deuticke eine Auswahl von Michael Köhlmeiers Erzählungen in einem Band versammelt. Bevor Max kam (1998), Der traurige Blick in die Weite. Geschichten von Heimatlosen (1999), den Roman von Montag bis Freitag (2004), Nachts um eins am Telefon (2005) und Vom Mann, der Heimweh hatte (2002) finden sich ebenso in der Sammlung Mitten auf der Straße wie eine Reihe bisher unveröffentlichter Geschichten. Es war höchste Zeit, einem von Österreichs wunderbarsten Erzählern einen Sammelband zu widmen. Schade nur, dass zwei von Köhlmeiers schönsten Werken – Dein Zimmer für mich allein und Der Unfisch, Köhlmeiers Beitrag zum Dornhelm-Film von 1997 – keinen Platz in der Antologie fanden und dass Mitten auf der Straße stellenweise schlampig lektoriert ist.

Köhlmeiers Erzähler sind einmal Frauen, dann wieder Männer, manchmal jung, dann wieder alt, Schriftsteller, Taschendiebe und liebenswerte Lügner, schrullige Einzelgänger wie gesellige Menschen, Nostalgiker und Lebenskünstler. So unterschiedlich die Charaktere auch sind, so ist ihnen doch zumindest eines gemeinsam: sie alle erzählen ihre Geschichten so wie einer jener Fremden, die in kostbaren Momenten unseren Weg kreuzen – vielleicht „Mitten auf der Straße“ – mit dem Bedürfnis, ihre Geschichte mit jemandem zu teilen. Köhlmeiers Ich-Erzähler sind Charaktere, denen wir nächtelang zuhören und darüber die Zeit vergessen könnten. Immer und immer wieder.

In Max begegnen wir einem Kaffeehausliteraten und Geschichtenerzählern, Menschen, die aus Beruf oder Berufung oder aus Liebe zu anderen lügen, Dieben, aussterbenden Völkern und Herrn Pietzsch, der seiner kranken Frau aus Liebe vorspielt, Alkoholiker zu sein. Bevor mittwochabends Max kommt, lauscht der Erzähler ihren Geschichten, um sie später aufzuschreiben: Geschichten von Sommerbegegnungen und Lauferlebnissen mit Libelle, von Gerüchen, die uns deprimieren und davon, dass Menschen einander nie ganz verstehen. Von den kleinen Schrullen, die liebenswert werden, wenn Köhlmeier darüber schreibt, wie etwa von dem Mann, der vor lauter Stille und Turmuhrschlägen nicht schlafen kann und fürchtet, an Ohropax zu ersticken, und davon, dass das Leben „von Nachahmungssucht auf der einen und Originalitätssucht auf der anderen Seite beherrscht“ wird, und dazwischen die Mittelmäßigkeit hängt „wie eine morsche Wäscheleine“.

Im traurigen Blick in die Weite erinnern sich die Menschen oder träumen von der Zukunft. Dr. Christoph König vom Literaturarchiv in Marbach am Neckar, beauftragt, das Manuskript von Kafkas Prozeß aus London abzuholen, überlegt, die Tasche mit dem Dokument in der U-Bahn liegenzulassen: „Aus Verrücktheit. Der wirklich große Mut einer Verrücktheit besteht ja darin, sich freiwillig und bewusst und absichtlich zu einem überragenden Idioten zu machen.“ In der Geschichte über den Reisenden, der im Zug dem Teufel begegnet, erfahren wir, dass Gott nicht weiß, wie viel ein Viertelkilo Butter kostet, und es auch nicht ausrechnen kann. Und dann ist da noch die Mutter im Rollstuhl , die ein Leben lang alle vier Jahre nach Lourdes geht und verspricht, wenn sie zurückkäme, würde sie mit ihrem Sohn auf die Hohe Kugel wandern. Ganz ohne Rollstuhl.

Im Roman von Montag bis Freitag, der eigentlich kein Roman ist, sondern ein buntes Mosaik aus Persönlichkeitsstudien, und in Nachts um eins am Telefon entführen uns ein schrulliger, manchmal einsamer, pathetischer Erzähler in die schönsten von Köhlmeiers Kurzgeschichten. Vor allem Nachts um eins am Telefon steckt voller subtiler Beobachtungen über die uns allen vertraute und doch immer fremd bleibende Alltagsparanoia, über schlaflose Nächte und die Grenzen von Kommunikation. Der Erzähler lebt allein und kommt nicht mit anderen Menschen aus. Nur des Nachts, schlaflos, ruft er alte Freunde oder auch Fremde an, um ihnen Geschichten zu erzählen oder sich an den Helden zu erinnern, der er als Kind war – etwa damals, als der Daumen seines Vaters abbrach – und selbst zum Zuhörer zu werden.

Hinter dem Mann, der Heimweh hatte verbergen sich Erzählungen, die in Lech spielen, Geschichten von „einfachen Menschen“, Erlebnisse der 14-jährigen „Seherin“, die anderen „ins Herz schauen“ kann und deren sehnlichster Wunsch es ist, so wie alle anderen Kinder auch Nazis als Eltern zu haben. „Der Fremde“ ist ein Taschendieb, der regelmäßig seinen Beruf beichtet (aber nicht hier in Lech, aus Rücksicht auf den Lecher Geistlichen). Der liebe Gott hat es so eingerichtet, dass er ein Gesicht hat, an das sich niemand erinnern kann – das einzige, was er sich im Gegenzug wünscht, ist, dass der Taschendieb niemandem die Existenz zerstört.

Im Kapitel Mitten auf der Straße finden sich bisher unveröffentlichte Erzählungen Köhlmeiers. Im „Silberlöffel“ geht es um den Schnittpunkt von Geschichten und Geschichte. Der Erzähler nimmt teil an einer Versammlung der Hohenemser Bürger „mit dem Zweck, einen Verein zu gründen, der die Etablierung eines jüdischen Museums vorantreiben sollte.“ Ein alter Freund macht den Vorschlag, dass jüdischer Besitz anonym ans Rathaus geschickt werden solle, und beobachtet, wie daraufhin „alle Anwesenden – alle! – zur Seite oder zur Decke oder auf den Boden [starren] und die Luft aus den Backen [blasen]“. – „Ich habe wahrscheinlich auch zur Seite geschaut oder auf die Decke oder auf den Boden“, meint der Erzähler und erklärt seinem Freund, dass es auch in seiner Familie einen Gegenstand aus jüdischem Besitz gebe: einen Silberlöffel, mit dem seine Mutter Waschpulver in die Maschine geschaufelt habe. Als er seine Eltern gefragt habe, woher der Löffel stamme, hätten sie „zur Seite und auf die Decke und auf den Boden geschaut und Luft aus den Backen geblasen.“ Von seinem Freund, der ihn als einen Geschichtenerzähler kennt, gefragt, ob die Geschichte überhaupt wahr sei, verneint der Erzähler. Will er sich bloß „an ein Schicksal anhängen“? Oder gibt es den Silberlöffel, den der Erzähler beim Nachhausekommen sucht und nicht finden kann, doch? Und macht es einen Unterschied, ob ja oder nein? Was sagt uns ein Silberlöffel über die Vergangenheit? Was ein Geschichtenerzähler über die menschliche Natur? Köhlmeier überlässt das Fragenstellen und Antwortenfinden dem Leser.

Stilistisch zeigt das Kapitel Mitten auf der Straße damit deutlich Köhlmeiers unkonventionelle Herangehensweise ans Erzählen, die ihn von anderen deutschsprachigen Gegenwartsautoren mit ähnlich scharfer Beobachtungsgabe unterscheidet. Während sich in der österreichischen Gegenwartsliteratur eine Tendenz zum offenen oder zumindest subtilen, jedenfalls kaum überlesbaren politischen und kritischen Stellungbeziehen abzeichnet und kleine Szenen symbolisch für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen einstehen, erinnert Köhlmeiers Erzählen an die Bilder Cézannes, von denen Rilke in einem Brief bemerkt, dass er male ohne „[wählerische] Verwöhntheiten“, in einer „alle Einmischung in eine fremde Einheit ablehnende[n] Sachlichkeit“.

Köhlmeiers Geschichten sind subjektive Beobachtungen minutiöser Details und sonderbarer Erinnerungen, die von Seiten des Autors weder be- noch verurteilt noch kommentiert werden und damit den Leser, nicht an der Hand durch eine Situation geführt, sondern in ihr alleingelassen, umso mehr verblüffen, verwundern und in den Bann ziehen. Diese erzählerische Herangehensweise findet sich auch in Köhlmeiers politischer Anekdote „Von einem bemerkenswerten Gespräch zwischen Henry A. Kissinger und Tschou En-lai“ und selbst im Mythos vom Skorpion – aber herauszufinden, was es mit Kissinger und dem Skorpion auf sich hat, sei dem interessierten Köhlmeierleser überlassen, dem jedenfalls sämtliche alte wie neue Geschichten in Mitten auf der Straße empfohlen seien.

Michael Köhlmeier Mitten auf der Straße
Die Erzählungen.
Wien: Deuticke, 2009.
606 S.; geb.
ISBN 978-3-552-06113-2.

Rezension vom 21.10.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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