Wer den Blick auf räumliche Sinnstrukturen richtet, entdeckt eine poetische Topografie, die auf dem erfühlenden Beschreiben von Übergängen, von Auf- und Umbrüchen fußt und „Dieses/Dazwischen-/stehn“ als ruhenden Pol anklingen lässt. Es ist mithin der Stoff, aus dem alle Metaphysik gemacht ist, nämlich die Flüchtigkeit des Daseins, der die inhärente Dynamik dieser Dichtung hervorbringt, einer Dichtung, die sich trotz allem entschlossen zur Veränderung bekennt.
Und an diesem Punkt schlägt die Geografie der Lyrik in eine Chronologie des Wandels um, die mit der Natur im Jahreskreis beobachtet wird. Auch hier wird das erfahrene Trennende konstatiert und in Versen wie diesen geäußert: „An den Rändern gehen/Mut unter dem Fuß/Schweigen/auf den Fersen.“ Immer wieder wird dabei das Wort an ein unbekanntes Du gerichtet, als ob auf diese Weise der fehlende Brückenschlag, der überfällige Landgang gelänge, dem das lyrische Ich mit Skepsis begegnet: „Drüben/Immer denke ich:/drüben/Aber/auch drüben/bröckeln die Backöfen/reißen die Seile/heulen die Sirenen.“
Steinwendtners Bilderreservoir speist sich aus wenigen Artefakten und greift meist auf die dem Menschen vorgängige Natur zurück. Vögel, Bäume und der weit geöffnete Himmel darüber genügen in der Regel, um Empfindungen mitzuteilen, die leichthin formuliert erscheinen und solcherart die kreative Arbeit kaschieren, die sich je und je zu dichterischen Höhenflügen aufschwingt. So etwa im Gedicht „Vergebens“, das zu den besten dieser Sammlung zählt und bei jeder Lektüre aufs Neue erfreut. Überraschend und in ihrer philosophischen Tiefe überaus treffend tauchen dort etwa die Worte „unerlöster/als das Gehn“ auf, die es uns erlauben zu ermessen, was es eigentlich mit dieser ursprünglichsten Art der Fortbewegung auf sich hat.
Ebenso unverfälscht und vielsagend begegnen uns die letzten Verse dieses lyrischen Glücksgriffes: „Die Kreolen fielen/in den Schnee/Niemand fand sie.“ Wo am Erwartungshorizont des Lesers „Krähen“ oder „Dohlen“ kreisen, erscheinen stattdessen „Kreolen“, die von beiden Vögeln nur das Lautbild nachahmen, aber zugleich den fernen Exoten heraufbeschwören, der, um den Kontrast noch zu verstärken, ins Weiß des Schnees stürzt, ohne Spuren zu hinterlassen.
Das Talent der Autorin offenbart sich nicht zuletzt dann, wenn sie Zahlen poetisch funktionalisiert und die Gesetze der Arithmetik höheren, nämlich jenen der Kunst, unterordnet. Gemäß Steinwendtners Einmaleins heißt es dann schlicht: „Drei mal drei/ist acht.“ Das ist recht und billig ebenso wie die Frage, ob eine einäugige Katze zum Fangen einer einzigen Maus die doppelte Zeit braucht.
Der erstmalige Kontakt mit Steinwendtners Mittagsvorsatz bietet das Bild eines überschaubaren, kohärenten Kosmos, dem das Nachwort eine zusätzliche, historische Dimension verleiht, aus dem sich erst die kongeniale Zusammenarbeit mit dem Übersetzer erschließen lässt. Insgesamt haben wir es also mit einem polyphonen Kunstwerk zu tun, das mögliche Anknüpfungspunkte zu anderen Werken und Biografien erlaubt, die wie ein kaum hörbares Raunen dem Bändchen zugrunde liegen und dem neugierigen Leser, wenn er es zulässt, zusätzliches Vergnügen bereiten.