#Prosa

Mit allen Wassern. Donaukanalisierungen

Elena Messner, Eva Schörkhuber (Hg.)

// Rezension von Martina Wunderer

Am Ufer des Donaukanals
Ich

(Seher Çakir)

„Texte im Ohr, die Stadt vor Augen“ – seit drei Jahren veranstalten die beiden Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen Elena Messner und Eva Schörkhuber unter diesem Motto literarische Soundspaziergänge durch die Stadtlandschaft Wiens. Im Gründungsjahr 2010 folgten die SpaziergängerInnen den bereits vorgeschriebenen und -gedruckten literarischen Spuren dreier serbischer AutorIinnen – Barbi Markovic, Dragan Velikic und Srdan Tešin. Auszüge aus ihren Romanen wurden mit Geräuschkulissen, Soundloops, musikalischen und intertextuellen Anspielungen unterlegt, um die vielfältigen Beziehungen zwischen Stadtleben und -landschaft und Literatur einzufangen, und als Audiodateien hörbar gemacht.

Im darauffolgenden Jahr wurde die Schraube um eine halbe Umdrehung weitergedreht. Dreizehn junge AutorInnen aus Belgrad, Wien und Zagreb sollten sich diesmal einen vorgegebenen Ort erst erschreiben: den Donaukanal. Ursprünglich ein Transportweg, heute urbane Freizeitlandschaft und Erholungsgebiet, schlägt der südliche Arm der Donau eine 17 km lange Schneise durch Wien und ist wesentlich enger mit dem Stadtbild verbunden als der Hauptstrom. So führen allein fünfzehn Straßen- und fünf Bahnbrücken über den Kanal, und „über dem Wasser, im Niemandsland (links liegt der neunte, rechts der zweite Bezirk) löst ihr dieser heiße Wind die Hand … und der schmutzige Faden fliegt … und fließt weiter wie im Fahrplan vorgesehen: Friedensbrücke, Rossauer Lände, Schottenring, Schwedenplatz, Landstraße, und dann irgendwohin in die Ferne …, wo das Wasser ins andere Wasser fließt“ (Marko Pogacar).

Die AutorInnen haben sich den Lauf des Donaukanals entlang oder „gegen den Strom“ (Antonia Rahofer), vom Praterspitz bis zur Nußdorfer Wehr (Ursula Knoll), auf Spurensuche begeben. Abseits der im städtischen Entwicklungsplan ausgewiesenen und nach dessen Gestaltungsleitbild geschaffenen Räume haben sie sich an neuen literarischen Kanalisierungen versucht, entlang auch ihrer eigenen Text-, Gedanken- und Lebensläufe. Und so lesen und schreiben sie den Donaukanal als privaten und politischen, als historischen und kulturellen, als realen und imaginären Ort, als eine Heterotopie – er vereint mehrere Räume an einem einzigen Ort und setzt sie zueinander in Beziehung. Diesen Räumen und Beziehungen spüren die Texte nach, versuchen sich „einen Reim auf diesen Donaukanal zu machen“ (Alexander Sprung) und legen selbst wieder neue Spuren, „Textspuren auf den Wegen durch die Stadt. Tonspuren auf den Wegen durch die Texte. Hörend gehen. Gehend hören“, denn „hier gibt es keine dauerhaften Zustände, und du musst immer weiter gehen …“ (Barbi Markovic).

Bis auf Ort und Umfang wurden den jungen AutorInnen keine Vorgaben gemacht – und so schrieben sie jede/r nach eigenen Regeln. Ihre Texte sind „nicht aseptisch und clean, dafür aber mit allen Wassern gewaschen“ (Brigitte van Kann). Vielseitig, vielstimmig kommen sie daher, flüsternd (Clara Landler), sich ins Wort fallend (Alexander Sprung) oder im Predigerton (Uros Miloradovic), kakophonisch (Antonia Rahofer) oder im stillen Zwiegespräch (Eva Schörkhuber) – auch miteinander: Über die Textgrenzen hinweg bilden sie Paradoxien, Synergien und Wortketten – Kanalwasserfarbe, Wassergeräusche, Farbenrauschen –, fügen sich zu Synästhesien und Bildern, bis sich die „Blicke verfangen“, „verhaspeln“ und „ins Strudeln geraten“ (Eva Schörkhuber), um dann wieder innezuhalten bei einem Schild: Anton-Schmidt-Promenade. Wer war er, der vor seiner Exekution an seine Frau schrieb: „Ich habe nur als Mensch gehandelt und wollte ja niemandem weh tun“ (Vule Zuric)? Und wohin ist das weiße Ghostbike verschwunden, zum Gedenken an den tödlichen Fahrradunfall auf der Weißbergerlände dort aufgestellt – „weißes metall mit schwarzen plastiklüftungsschlitzen von der seite, kalt … so also fühlt sich ein lastwagen an“ (Ursula Knoll)? Und wie war das, als ihr beim Sonnenbaden am Ufer nur deutsch sprechen durftet, „damit die anderen, vorbeikommenden Türken nicht wissen, dass wir Türken sind“ (Eva Schörkhuber/Seher Çakir)? Oder damals, als Serbenmenschen gegen Kroatenmenschen in den Krieg zogen, obwohl sie gestern noch Nachbarn waren (Igor Periši)? Denn „der Fluss ist derselbe, aber die Menschen, die sind nicht gleich“ (Slobodan Bubnjevic).

„Texte im Ohr, die Stadt vor Augen“ – durch dieses außergewöhnliche Format der Literaturvermittlung werden „akustische, sprachliche und urbane Räume gleichzeitig“ ausgeleuchtet, der Donaukanal wird „als Rezeptions- und Produktionsstätte literarischen Geschehens sichtbar, als öffentlicher Raum, an dem Geschichte ablesbar wird, in gleichem Maße, wie sich neue Geschichten einschreiben“: Die AutorInnen durchgehen, durchschreiben, durchqueren und übersetzen den Donaukanal, „von einem Ufer auf das andere, von einer Sprache und Kultur in die nächste, vom Gesprochenen ins Geschriebene, vom Gehörten ins Gelesene“. Denn pünktlich zu den Soundspaziergängen 2012 im Museumsquartier lassen sich die literarischen Donaukanalisierungen in der bei Sonderzahl erschienenen, schön gestalteten und bebilderten Anthologie Mit allen Wassern nun auch nachlesen.

Niedergelassen
In der Mittagshitze eines Sonntages
Am Ufer des Donaukanals
Ein Glas Tee lang

(Seher Çakir)

Der Soundspaziergang steht auch als Hörbuch zur Verfügung – unter dem Link soundcloud.com/donaukanalisierungen/soundspaziergang_2011/download/s-eQxCA

Elena Messner, Eva Schörkhuber (Hg.) Mit allen Wassern. Donaukanalisierungen
Donaukanalisierungen von Autorinnen und Autoren aus Belgrad, Wien und Zagreb.
Wien: Sonderzahl, 2012.
96 S.; brosch.; 21 SW-Abb.
ISBN 978 3 85449 379 2.

Rezension vom 10.12.2012

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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