#Lyrik

mir kommt die Hand der Stunde auf meiner Brust so ungelegen, dass ich im Lauf der Dinge beinah mein Herz verwechsle.

Isabella Breier

// Rezension von Birgit Schwaner

Verwerfung im Sprachfeld: Sinngewinn
Zu Isabella Breiers jüngstem Gedichtband
.

„Mir kommt die Hand der Stunde auf meiner Brust so ungelegen, dass ich im Lauf der Dinge beinah mein Herz verwechsle“. Was für ein Titel! Hand aufs Herz, man riete als Lektorin der Dichterin zu einem weniger sperrigen. Aber so, als Rezensentin, hält man das fertige – übrigens: besonders ansprechend gestaltete und mit feinen Illustrationen versehene – Buch in Händen und ist erfreut. Wie stimmig sich hier alles fügt: Der lange Titelsatz wurde beim Beistrich getrennt und seine beiden Teile (Haupt- und Nebensatz) schmücken nun handschriftlich, weiß auf schwarz, in flotter Diagonale die Buchdeckel. Allein diese optische Trennung – d.h. die Lesepause, die sich durch den Wechsel, das Wenden des Buches von der Front zur Rückseite ergibt – macht den langen Titel, in dessen widersprüchlichen Metaphern sich die Assoziationen sonst wie in einer Endlosschleife verlaufen könnten (Absicht der Dichterin? Durchaus möglich), leichter zugänglich. Die „Hand der Stunde auf meiner Brust“ zum einen, zum anderen der „Lauf der Dinge“ spielen auf einen fundamentalen Topos der Kunst und unseres Daseins an: Die Vergänglichkeit des Lebens. Erst in Form einer poetischen Metapher, dann als alltägliche Redewendung. Wobei erstere eher die Erschütterung des Memento mori zum Ausdruck bringt, zweitere aber die Banalität der vergehenden Zeit, die eben der „Lauf der Dinge“ ist.

Weitere Zusammenhänge bestehen zwischen „Brust“ im Haupt- und „Herz“ im Nebensatz, und zwischen dem „Ungelegen“-Sein und dem Verwechseln, denn das erste wird hier zur Ursache des zweiten. Eine Lesart: Das „Ich“ verwechselt „beinah“ sein Herz – weil „die Hand der Stunde“ (die im Hauptsatz das agierende Subjekt ist) auf der Brust es irritiert. Salopp gesagt: Die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit, die gemeinhin die Sinnfrage nach sich zieht, stört den reibungslosen Ablauf alltäglicher Handlungen. Aber sie verhindert ihn nicht, sondern nur „beinah“. Vielleicht landet, wer einen Sinn sucht, ohnehin wieder „im Lauf der Dinge“? Fragt sich nur, womit sein Herz verwechseln.

Und Sie, werte Leserinnen und Leser, fragen sich vielleicht, warum diese lange Erörterung eines Titelsatzes. Oder auch: Warum deren Abbruch – würde es jetzt nicht gerade interessant? Schließlich ist Mensch kein Tintenfisch mit drei Herzen, da gibt es zumindest organisch nichts zu verwechseln, man könnte also der Herz-Metapher nachgehen, die weltumspannenden, weltgenerierenden „Herzgewächse“ (Hans Wollschläger) erforschen und weiter all den Assoziationen und Gedanken folgen, die Isabella Breier mit einem Satz zu wecken vermag. Freilich: ein Satz, der einem umfangreichen Lyrikband vorangeht. Ein Satz aber auch, der in seiner Vielschichtigkeit und Komplexität bereits Stärke und Schwäche des ihm folgenden Werkes widerspiegelt. – Wobei zunächst eine Schwäche dieser Rezension genannt sei: Sie beruht, notgedrungen, auf einem ersten und zweiten Eindruck. Wie wird man überhaupt auf drei Seiten 314 Seiten Gedichten gerecht?

Die in diesem Band, in zwölf Kapiteln, versammelten Gedichte entstanden großteils in den letzten Jahren – so die Autorin in einem Interview mit „literadio“ vom 27. November 2019. Die Einordnung in Kapitel fußt lose auf thematischen Aspekten, wobei das Spektrum an Themen von der Politik über die Sprache – als Instrument und Moment der (trügerischen) Erkenntnis – bis hin zu Reise- und Liebesgedichten reicht und die Variantionsbreite im Tonfall, die Fülle an Anspielungen und Klangfarben beeindruckt.

Müsste man all diese Texte unter einem Schlagwort zusammenfassen, also ungenauer werden oder versuchen, zumindest eine, mehr oder minder vorhandene, ihnen gemeinsame Perspektive zu benennen, böte sich vielleicht „lyrisches Journal“ an. (So beschrieb auch Isabella Breier gegenüber „literadio“ ihre Gedichte als „nah an Lebenserfahrungen“.) Nicht chronologisch, erst recht nicht datiert – entsteht im Lesen der Gedichte etwas wie ein biografischer Bezugsrahmen. Als wäre jedes zwar ein autonomer Text, aber zugleich nur eine Facette eines, von Seite zu Seite weiter sich entfaltenden, komplexen „Ich“, das hier im Modus des poetischen Sprechens (M. Braun) reflektiert, sich erinnert, sich erklärt, erzählt, kommentiert, mit der Sprache spielt. Oder auch: ein „Ich“, das im – aus dem Alltäglichen herausgehobenen – poetischen Sprechen reagiert, agiert und aus seiner ästhetischen Distanz den Wahnsinn der Welt, die erfahrenen Versehrungen zum Ausdruck bringt. Und dabei wild durcheinander Zitatfragmente, Fachtermini, englische Begriffe, salopp Idiomatisches ins fast schon Erhabene mischt und der alltäglichen Tragik u.a. mit wendiger Intelligenz, abgeklärtem Optimismus und bitterem Galgenhumor beizukommen versucht.

Es ist eine starke Stimme, die aus den Texten spricht, und „ich“ sagt. Ihr eigener Ton wird von Gedicht zu Gedicht deutlicher „hörbar“, hat auch etwas Kühnes, zeigt Experimentierfreude wie Verletzlichkeit. Wie hier mit einzelnen Wörtern gespielt wird, wie sie zerteilt und unkonventionell verknüpft werden, oder aneinandergekoppelt zu Neologismen oder nebeneinandergestellt in überraschenden Vergleichen, ironischer Aufzählung … – das zeugt von einer überbordenden Lust am Formulieren, an der Sprache, die sich noch beim Lesen überträgt:

Man erfreut sich etwa an aussagekräftigen Alliterationen wie „abends aufgelistet, morgens abgehakt: / Wiege, Wege, weggelegt: cultus, Coitus, Kostenvoranschlag“ oder „bemühtes Stirnrunzeln auf Sternenparkett“ (S. 250 f.); Komposita wie den „Wohlfühljoghurts“ und dem „Paarimperativ“ (S. 250); gelungenen Metaphern wie „mein wegdriftendes Halbinselherz“ (S. 265) oder solchen, in denen Kulinarik und Sprachreflexion eine Verbindung eingehen wie beim „Phrasengulasch“. Man trifft auf Zeilen, die als Aphorismen für sich stehen könnten und die man nicht vergessen will, wie „mein Kopf ist so einer, / der beim Kentern zu sich kommt“ (Seite 118) oder „an jeder Theke gibt’s Sackgassengespräche“ (S. 126) … Kurz, allein wegen solcher Fundstücke sei dieses abwechslungsreiche Buch veritablen Lesenden ans Herz gelegt, ohne dass es die Brust beschwert.

Zwar scheint, wie beim Titelsatz tendenziell die Gewichtung der Breier’schen Lyrik etwas mehr auf der Begrifflichkeit der Wörter zu liegen als auf der Sinnlicheit und Bedeutung ihres Klanges. Aber das mag Absicht sein, in einer Welt der Dissonanzen und Interferenzen, in der Klänge und „Stimmungen“ weniger nachhallen dürfen, als dass sie gestört werden. Wo Verwerfungen im Sprachfeld den Status quo bestimmen, wäre alles andere Utopie, oder Illusion. Und Illusionen, des sei man gewiss, sind dieser Dichterin stets verdächtig.

Lyrikband in zwölf Kapiteln.
Mit Illustrationen von Hannah Medea Breier.
Wien: farbrik transit, 2019.
314 S.; geb.
ISBN 978-3-903267-03-9.

Rezension vom 31.08.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.