Wie schon für sein literarisches Debüt „Fuchserde“ wählt der Waldviertler Autor Thomas Sautner auch für seinen zweiten Roman als Titel einen beinahe vergessenen Ausdruck der Jenischen: Milchblume bezeichnet in ihrem Volksmund natürliches, aus Frischkäse gewonnenes Penicillin, wie es die Zigeuner verwendeten, um ihre Kranken zu heilen. Während Sautner in „Fuchserde“ das Leben des fahrenden Volkes in den Mittelpunkt stellte, lenkt er den Blick nun auf eine kleine Dorfgemeinschaft von sesshaften Viehbauern. Seine volkstümelnde, an die mündlichen Erzählungen der Alten erinnernde Sprache erweckt dabei das Bild einer archaisch-patriarchalen Lebenswelt, es gelingt ihm streckenweise, das authentische Portrait einer einfachen, bäuerlichen Gesellschaft in einem abgelegenen Winkel des Nachkriegsösterreich der 50er Jahre, in dem kleinen Ort Legg, zu zeichnen.
Der Alltag der Menschen dort ist geprägt von den Jahreszeiten, von der harten Feldarbeit, großteils noch von Hand verrichtet, von einer eigentümlichen Mischung aus volkstümlichem Aberglauben und bigottem Katholizismus. Das Wort des Pfarrers und des Bürgermeisters sind Gesetz, der Vater erzieht seine Söhne mit harter Hand zu gehorsamen Christenmenschen, so wie er selbst von seinem Vater mit aller Strenge gezüchtigt wurde. Der Umgangston zwischen den Bewohnern ist rau, kein liebes Wort, kein Ausdruck der Zuneigung schenkt etwas Wärme im harten, dumpfen Bauernalltag.
„Dabei sind die Menschen so liebesbedürftig,“ wundert sich Jakob, der Idiot, der „Trottel, Verrückte, Hornochs. Oder einfach nur Depp“, wie er im Dorf genannt wird. Doch scheint sich hinter seiner Schwachsinnigkeit ein großer philosophischer Geist zu verbergen, der mit der Neugier eines Kindes sich selbst und sein Verhältnis zur Welt befragt. Dass er dadurch zum Außenseiter gestempelt, Opfer grausamer Späße und Hänseleien wird, das kümmert ihn nicht weiter, denn den Preis der Anpassung und Selbstverleugnung, den es zu zahlen gilt, um „normal“ zu sein, kann und will er nicht akzeptieren.
Den sprach- und gedankenlosen, ihren eigenen Gefühlen entfremdeten Bauersleuten stellt Sautner als Pendant das Volk der Fahrenden gegenüber, die der Leser bereits aus seinem Vorgängerroman kennt. Die Zigeuner, die auf den Höfen ihr Winterquartier beziehen, zeichnen sich durch eine tiefe Spiritualität, durch uraltes Wissen und eine ursprüngliche Naturverbundenheit aus. Wie Jakob werden auch sie von den Dorfbewohnern aufgrund ihres Fremd-Seins ausgegrenzt, und so ist es nicht zufällig bei ihnen, dass Jakob auf Verständnis stößt. Der Anführer der Fahrenden, der alte Fabio, wird zu Jakobs Lehrer, er ermutigt ihn, weiter seinen Gefühlen, seinem Instinkt zu folgen, und sich nicht abhanden zu kommen: „Lebe das Leben, von dem du fühlst, dass es das deine ist. Nicht das der anderen.“ Denn „Das Wertvollste aber, das Gott uns geschenkt hat, auf das achten sie am Wenigsten: auf die Liebe und die Freude in uns und die unendlichen Möglichkeiten, sie Tag auf Tag aufs Neue zu erleben.“ So lehrt es Fabio seinem Schüler Jakob, und so erklärt dieser seine Absonderlichkeit, in Wirklichkeit Ausdruck von Freiheit, seiner Schwester Silvia, dem einzigen Lichtblick in seinem harten, von Lieblosigkeit geprägten Dasein auf dem Seifritz-Hof, wo er eher wie ein Knecht denn wie ein Sohn behandelt wird. Nur mit Silvia verbindet ihn das zarte Band einer keuschen, hoffnungsvollen und doch verzweifelten Liebe, da Geschwisterliebe, wie er weiß, eine große Sünde ist.
Und doch, so spürt Jakob, gibt es ein Geheimnis, das über seiner Herkunft liegt, ein Geheimnis, das aus dem vernarbten Gesicht des Pfarrers, aus der stiefmütterlichen Behandlung durch die Seifritz-Bauern, aus der tief empfundenen Verbundenheit mit den Zigeunern und nicht zuletzt aus der zärtlichen Hingezogenheit zu Silvia spricht. Doch bevor sich das Geheimnis seiner Vergangenheit erschließt, überstürzen sich die Ereignisse im Dorf. Großes Unheil droht: Kühe werden geschändet, ein Hof in Brand gesteckt, ein Bauernsohn setzt seinem Leben selbst ein Ende. Und all diese düsteren Vorzeichen verweisen nur auf noch viel Schrecklicheres, wie die alte Seifritz-Großmutter weiß: „Kriechen Würmer auf den Wegen, kommt’s zu schrecklichem Regen.“ Mehr sei hier nicht verraten. Nur so viel: Am Ende wird auf dem Seifritz-Hof sowie für Jakob nichts mehr so sein wie es war.
Die Erzählperspektive dieses Heimat-, Kriminal- und Liebesromans – denn all diese Muster verwebt Sautner zu einer reißerischen Handlung – wechselt ständig zwischen der dritten und ersten Person: der beobachtende, allwissende Erzähler beschreibt das Geschehen aus der Vogelperspektive, während Jakob mit einem Raben Zwiesprache hält und das Geschehen aus seiner begrenzten, kindlich-unschuldigen Sicht beschreibt und hinterfragt. Es ist dieser Blick eines Außenseiters, vor dem die Fassade einer idyllischen Dorfgemeinschaft zu bröckeln beginnt und sich ein Abgrund aus Gewalt, Verrat, Sodomie und Inzest auftut. Die Beschreibung, die in ihrer Verknüpfung von radikalem Realismus und Märchen an den magischen Realismus eines Gabriel García Márquez erinnert, gerät dabei jedoch oft allzu kolportageartig, weckt Reminiszenzen an die reißerische Erbauungsliteratur der frühen Feuilletons, schreckt weder vor der detaillierten Schilderung bestialischer Grausamkeiten noch vor Rührseligkeit zurück.
„Wenn ich ein Buch lese, wünsche ich mir, dass es sprachlich schön ist, mich inhaltlich etwas lehrt und im besten Fall auch reifer macht beim Lesen,“ betont Saunter in einem Interview. Doch so moralisch lehrreich die Weisheiten, wie sie Milchblume zuhauf kennt, auf manchen Leser wirken mögen, so unangenehm berührt ihre Banalität manch anderen: Am Ende empfangen die Bösen ihre gerechte Strafe, es triumphieren die Guten, heiraten und leben glücklich bis an ihr Lebensende. So will es das Märchen. Und dass man nur mit dem Herzen gut sieht und das Wesentliche den Augen verborgen bleibt, lehrte schon Meister Fuchs dem Kleinen Prinzen.