#Lyrik

Metamorphosen

Franz Josef Czernin

// Rezension von Marcus Neuert

Die kleine Kosmologie.

Wie war das noch gleich früher, als wir klein waren – was war es, das die Phantasie in uns wachrief? Es war wohl alles, was mit Spiel zu tun hatte, und wir schufen uns unseren eigenen kleinen Kosmos aus ein paar Legosteinen, Holzstöckchen und Papierfetzchen. Und wir spielten, manchmal freilich unbewusst, auch mit Sprache (man erinnere sich nur an die kindlichen Beisteuerungen zu Axel Hackes „Der weiße Neger Wumbaba“).

Die spielerischste Form der Literatur ist die Lyrik. Wie alle Spiele unterliegt aber auch sie gewissen Regeln. Schon allein darin mag man die grundsätzliche Verwandschaft von Gedicht und Spiel begründet sehen können.
Es müsste folglich ein Spiel geben, dass sich aus Versatzstücken von Poesie zusammensetzt. Wäre damit nicht vielleicht gleichzeitig der Lyrikrezeption ein riesengroßes Scheunentor zu eröffnen, und das just in einer Zeit, in der bekanntermaßen deutlich mehr Gedichteschreiber als –hörer oder –leser existieren?

Ein solches Spiel gibt es doch längst, mögen Sie vielleicht einwenden. Richtig, in Erinnerung ist immer noch die „Kühlschrankpoesie“, deren „red edition“ ebenfalls Franz Josef Czernin einst herausgab: kleine magnetische Plättchen mit Worten und Silben, die sich frei und nahezu unendlich kombinieren ließen. Meist kam es dabei aber im Alltagsgebrauch nicht zu Gedichten oder Aphorismen, sondern eher zu kurzen Nachrichten an die WG-Mitbewohner, die besagten, dass mal wieder jemand Salami kaufen müsse, praktischerweise angepinnt an den heimischen Eisschrank. Auch zeitversetzte Flirts wurden auf diese Art und Weise möglich (was der Intention von Lyrik vielleicht schon näher kommen mochte).
Dass natürlich auch der ein oder andere Deutschlehrer diese Textbaustelle für didaktisch-poetische Versuchsspiele mit seinen Schülern nutzen würde, war vorhersehbar und erwünscht, eröffnet die „Kühlschrankpoesie“ doch einen wunderbaren Blick auf das nackte Wortmaterial, mit dem relativ frei vielerlei Sinn und Unsinn gestaltet werden kann.

Was Czernin nun mit den Metamorphosen vorstellt, geht allerdings eher auf Raymond Queneaus 1961 veröffentlichte „Cent mille milliards de poèmes“ zurück, wobei der österreichische Autor die Möglichkeiten der Kombination nicht wie im Original auf die Sonettform beschränkt: es gilt, 72 papierene Versstreifen sowie sechs Blankostreifen, die als Joker dienen können, nach verschiedenen Kriterien der Wahrnehmung und Plausibilität zu immer neuen Gedichten zusammenzustellen. In der dreißigseitigen Vorrede zum Spiel knüpft Czernin Verbindungen zwischen Evolutionslehre und Poesie, deren wichtigste er im Prinzip der Metamorphose, der „wesentliche[n] Veränderung“(S.3), zu entdecken glaubt: „Auch in einem Gedicht kann, wie im metaphorischen Sinn in natürlicher Evolution, uns blatt um blatt mit teilung winken und sich dabei verwandeln.“ (ebd.)
Die einzelnen kleinen Kapitel seiner Ausführungen überschreibt der Autor dabei jeweils mit einem der 72 Verse und verwebt die poetischen Streifen somit gleich praktischerweise mit der sich nach und nach herauskristallisierenden Spielanleitung. Diese freilich basiert nur auf Vorschlägen, die nach Belieben erweitert oder geändert werden können.
Dass hier nicht wie bei der Kühlschrankpoesie mit einzelnen Wörtern, Silben oder gar Buchstaben gearbeitet werden kann, sondern dem Spieler lediglich die Verknüpfung der vorgegebenen vierhebigen Jamben zu immer neuen Versgirlanden bleibt, mag man zunächst als Einschränkung betrachten. Durch Czernins schier unglaublich offene Versgestaltung aber ergeben sich so viele Anwendungsmöglichkeiten, dass man gleichsam wie von selbst in einen Strudel des Gedichtebauens gezogen wird, ohne dabei je Gefahr zu laufen, wie bei der Kühlschrankpoesie in letztlich unpoetisches Gestammel auszubrechen – die tragenden Konstruktionen sind mit den einzelnen Teilen ja schon vorhanden.
Dieses Spiel kann aber auch einfach dabei helfen, Gedichte genauer zu lesen, sich darüber klar zu werden, was vom reinen Wortmaterial her oder aber auch athmosphärisch im Vordergrund steht, was fasziniert (und gegebenenfalls: was nicht).

Einmal mehr stellt sich in solchen Situationen die Frage: wer ist denn nun der Autor solcher Gedichte? Czernin, der die einzelnen Verse zugrundelegt? Die Spieler, die sie nach bestimmten Kriterien neu ordnen? Das entstehende Gedicht selbst? Noch so eine Problemstellung des Copyrights, die die Piratenparteien dieser Welt bisher nicht gelöst haben. In jedem Fall bräuchte man deutlich mehr als ein Leben, um alle möglichen Kombinationen der Metamorphosen zu konstruieren und zu lesen.
Statt in Buchform hätte man Czernins neues Werk auch als anspruchsvoll gestaltetes Brettspiel herausbringen können – die herausgetrennten Kärtchen lassen sich jedenfalls nach dem Spiel nur schwer wieder so in einer in den Umschlag eingefügten Papiertasche unterbringen, dass das zusammengesetzte Endergebnis ins Bücherregal passt. Oder hätte man die „Metamorphosen“ nicht auch gleich als Computerspiel konzipieren können? Ein Zufalls- oder gar ein Regel-Generator wären durchaus denkbare Helfer, vor allem beim Spiel allein. Mit Queneaus Sonetten soll eine online-Version sogar schon versucht worden sein, scheiterte allerdings dann an einem Veto der Erben.

Esse est percipi – das Sein der Dinge besteht nur in ihrer Wahrnehmung. Dieser Lehrsatz des irischen Theologen und Philosophen George Berkeley (1684-1753), von Franz Josef Czernin erneut ins poetische Feld geführt, ist vielleicht auch ein Schlüssel zum Verständnis moderner Lyrik. Das Spiel und der Essay Metamorphosen des Autors legt uns für diesen Schlüssel gleichsam das Schloss vor. Es braucht nur ein wenig Mut, beides zusammenzubringen und sich eine Parallelebene zu erschließen, die gleichermaßen Welterkennen und Weltflucht sein kann. Die inneren Bilder, die sich auftun können, wenn man sie zulässt, sind ein schöner Lohn für die Mühe.

Franz Josef Czernin Metamorphosen
Gedichte.
Graz, Wien:Droschl, 2012.
54 S.; geb.; mit unterschiedlichen Spielkarten.
ISBN 978-3-85420-798-6.

Rezension vom 12.04.2012

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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