#Sachbuch

Menschen im Kino.

Anne Paech, Joachim Paech

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl / Christine Schmidjell

Als 1927 der Tonfilm seinen Siegeszug antrat, bedeutete dieser tiefe Einschnitt in die Geschichte des Films auch den Beginn eines Bewußtseins für Filmgeschichte überhaupt – am Beginn des Tonfilms steht die Erinnerung an den Stummfilm. Auch das aktuelle Interesse an der Geschichte des Kinos ist verbunden mit dem Wissen, daß wesentliche Elemente der klassischen Kinokultur bereits eine Sache der Erinnerung sind. Der Ort, den der Film nach seinem anfänglichem Vagantendasein in Jahrmarktsbuden, Zelten, Cafés und Gasthäusern für sich gefunden hat, ist mit ihm nicht mehr untrennbar verbunden, der Film hat sich vom Kino emanzipiert.

Anne und Joachim Paech – von ihm erschien 1988 ebenfalls bei Metzler unter dem Titel „Film und Literatur“ (2. Auflage 1997) ein Standardwerk zum Verhältnis der beiden Künste – legen mit dem Band „Menschen und Kino“ eine Kinogeschichte der besonderen Art vor. Untersuchungsgegenstand ist der Erlebnisraum Kino und die Befindlichkeiten und Verhaltensweisen seiner Besucher. Basismaterial der umfänglichen Kulturgeschichte des Kinos aus der Perspektive des Zuschauerraums sind literarische und filmische Rezeptionszeugnisse. Es geht also auch ganz wesentlich um die Reflexion auf das Kino, um die Frage, was geschieht, „wenn Film und Literatur ins Kino gehen“ (S. 44). Was die Autoren unter diesem Aspekt zusammentragen, ist allein schon von der Fülle und Dichte des Materials beeindruckend.

Angelegt ist der Band im wesentlichen dem historischen Bogen folgend, und das ist vielleicht nicht die glücklichste Entscheidung, denn dadurch können Entwicklungslinien zu einzelnen Erlebnisfeldern des Kinobesuchs immer nur ausschnitt- bzw. abschnitthaft mit Vor- und Rückverweisen in den Blick kommen, was Redundanzen und Wiederholungen unvermeidlich macht.

Eines der zentralen Problemfelder, das die Autoren an fast allen Stellen der historischen Entwicklung aufgreifen und detail- und beispielreich darstellen, ist die Interaktion zwischen Leinwand und Zuschauer und die Modi der Grenzüberschreitungen. Das beginnt bei den Anfängen des Films in den Jahrmarktsbuden, wo am Abend häufig tagsüber vor Ort gedrehte Alltagsszenen gezeigt wurden und die Besucher sich selbst auf der Leinwand unmittelbar erkennen konnten, und reicht bis zu subtilen und / oder durch special effects vermittelten Techniken der Illusionsdurchbrechung, um mit humorvoller, spannungssteigernder oder angsterzeugender Intention das Kinopublikum möglichst direkt ins Filmgeschehen einzubeziehen. Damit hängt auch die Veränderung in der eingeforderten Zuschauerhaltung zusammen. Von der lauten und spontanen Teilnahme des Publikums in den varietéartigen Anfängen des Kinos über die Immobilisierung und Disziplinierung der Zuschauer im Zuge der Höherwertung des Kinos zum „Lichtspieltheater“ bis hin zu den Versuchen, mit (kamera)technischen Mitteln den Zuschauer wieder unmittelbar einzubeziehen, Zuschauerblick und Kamerablick zur Deckung zu bringen. Ein diachroner Blick entlang dieses Themensegments hätte hier das Material und die Analyse vielleicht stärker strukturiert. Dasselbe gilt für viele andere immer wieder angesprochene Momente des Kinoerlebens, etwa das Spiel mit dem naiven Zuschauer, der mit der Leinwand als Borderline zwischen Film und Leben seine Schwierigkeiten hat. Oder der kriminologische Aspekt, denn das Kino ist von den Anfängen bis heute als Ort der (Film-)Handlung immer wieder auch Ort des Verbrechens – Edith Kneifls „Ende der Vorstellung“ ist dafür eines der jüngsten Beispiele der österreichischen Literatur.

Spannend wären diachrone Darstellungen aber auch zu materialen Aspekten der Kinogeschichte, etwa die Entwicklung der Filmvorführräumlichkeiten in Abhängigkeit von technischen Produktionsbedingungen ebenso wie von Publikumserwartungen, die Wandlung der ans Kino gebundenen Berufsfelder und ihres Prestiges, die Entwicklung der kulinarischen Versorgung der Kinobesucher und deren diesbezüglichen Präferenzen, die Veränderungen in der Kino/Filmwerbung und in der optischen Präsentation des Kinos nach innen und außen.

Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: alle diese Themen (vielleicht mit Ausnahme der Kino-/Filmwerbung) werden im Buch umfänglich dargestellt und mit einer Fülle von Material spannend und informativ aufbereitet. Nur die Segmentierung in historische Abschnitte macht eine themenorientierte Lektüre schwer und Brüche, Konstanzen, Variationen und Wiederaufnahmen über das Gesamt der hundertjährigen Kinogeschichte nicht wirklich greifbar macht.

Davon unabhängig fasziniert die Fülle an filmischen wie literarischen Belegen und auch an historischen Fakten, die die beiden Autoren zu gut lesbaren Abschnitten montieren. Zitiert und referiert werden nicht nur die klassischen Rezeptionszeugnisse etwa aus der Frühzeit des Films von Franz Kafka, Joseph Roth, Siegfried Kracauer, Alfred Döblin, Irmgard Keun, Ilja Ehrenburg, Walter Benjamin usw. In allen Abschnitten bietet der Band auch Entlegenes, Unerwartetes, Randständiges aus Film wie Literatur. Das macht die Buntheit und Lebendigkeit des Bandes aus, impliziert aber auch eine Vielzahl von referierten Inhaltsangaben, die man im Lesefluß jedoch gerne in Kauf nimmt und nicht selten als Bereicherung und Anregung für zukünftige Lektüren/Filmerlebnisse nimmt. Unmittelbar zu empfehlen etwa Arnold Höllriegels Roman „Bimini“, der im Jahr 1923 eine Groteske auf das reality-TV von heute entwirft. Wie nebenbei eingestreut finden sich auch viele Kuriosa aus der Kinogeschichte. Wir lernen den „Kinoerklärer“ der Stummfilmzeit kennen und das Hüteproblem (das mit eingeblendeten Aufforderungen „Ladies will please remove their hats“ gelöst wurde), lesen von einer der ersten Filmvorführungen in Deutschland in einer Automatenhalle der Firma Stollwerck oder von der Belästigung früher Kinobesucher durch das ständige Klappern der Schokoladeautomaten, die an der Rückseite der Sitze angebracht waren (das berichtet Victor Klemperer aus dem Jahr 1913). Aufgelockert wird der Text durch eine Fülle von Kaderbildern aus den besprochenen Filmen und Bildmaterial aus dem Film/Kinoumfeld, das leider nicht über ein Bildregister erschlossen ist. Äußerst hilfreich hingegen die Verzeichnisse der zitierten Filme und literarischen Texte und das Personenregister.

Ein kleiner Nachtrag aus aktuellem Anlaß: Ein kurzes Kapitel des Bandes ist der Filmmusik der Stummfilmzeit gewidmet. Dazu gibt es nicht nur die Erzählung „Begleitmusik“ von Theodor Heinrich Mayer aus dem Jahr 1921. Im Rahmen des Festivals „Film & Musik live“ sind vom 28. April bis 2. Mai 2000 im Wiener Konzerthaus Klassiker der Stummfilmzeit mit orchestraler Livemusik zu sehen und zu hören.

Evelyne Polt-Heinzl
8. März 2000

Film und Literatur.
Stuttgart, Weimar: Metzler, 2000.
(Arte Edition).
342 S., m. Abb., brosch.; DM 49,80.
ISBN 3-476-01747-8.

Rezension vom 08.03.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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