#Roman

Melichar

Friedrich Hahn

// Rezension von Andreas Tiefenbacher

oder Von der Kunst, keinen Roman zu schreiben.

Der als titelgebender Held der Geschichte fungierende seltsame Mann, der in einem Souterrainlokal des Hauses Wassergasse 10 im dritten Bezirk wohnt, wird nach der vorher dort angesiedelten Firma: Melichar genannt. Wie er wirklich heißt, bleibt offen. Gerüchten zufolge soll er ein Bekannter der Hausherrin und eigentlich Schriftsteller sein, der in seiner Jugend als großes Talent gegolten hat, dann aber bald in Vergessenheit geraten ist.

Von seiner Umgebung wird er misstrauisch beäugt und als „Kellermann“, „Herr Niemand“ oder „Der Bescheuerte“ wahrgenommen.
Auf den Volksschüler Konrad Schramm, der ein schüchterner Bub ist und mit seinen Eltern in der Hausbesorger-Wohnung im Erdgeschoß wohnt, wirkt der Asket und Lebenskünstler ziemlich anziehend. Seine Mutter ist aber eher dagegen, dass er Umgang mit dem Sonderling pflegt. Erst als er nach einem Sturz mit dem Tretroller von ihm versorgt wird, erlaubt sie Konrad, zur „Teestunde bei Melichar“ zu erscheinen. Der hat nicht nur jede Menge Geschichten über einen „von der Welt, der Politik, den Künsten, der Zeit, der Liebe und von Gott“ Enttäuschten auf Lager; er lässt den Buben auch auf seiner Schreibmaschine tippen, ja bringt ihn zum Lesen und Schreiben.
Mit sechzehn verfasst Konrad erste Gedichte und kleinere Prosa. Nach der Matura zieht er zur zwei Jahre älteren Margot und bekommt von Melichar einen schweren, unhandlichen Holzkoffer voll mit Notizen geschenkt. Er nimmt sich vor, dieselben „ins Reine zu schreiben, sie eventuell in eine Ordnung zu bringen“, kümmert sich nach dem Grundwehrdienst dann aber doch mehr um seine Laufbahn bei der Polizei.
Während Lebensgefährtin Margot, die weder Kinder noch heiraten will, als Lehrerin arbeitet, wird Konrad nach einem Offizierskurs stellvertretender Abteilungskommandant. Neben psychischen Belastungen im Beruf (er hat mit Menschen zu tun, die „voller Aggressionen, abgesandelt und meist bis zur Bewusstlosigkeit alkoholisiert (…) ganz unten gelandet sind“) setzen ihm privat „Zuwendungsmangel“ sowie gesundheitliche Probleme zu. Ständige Migräneattacken führen zu Dienstuntauglichkeit und Frühpensionierung.
Konrad vereinbart mit Margot eine Beziehungspause, zieht in eine Zweier-WG und hat plötzlich das Gefühl, die Rolle von jemandem zu spielen, für den es keine Rolle gibt. Er führt „ein kleinlautes Leben“ und versucht, der Langeweile endlos anmutender Tage mit einem „blauen Parkbuch“ beizukommen, das er mit Porträts füllt. Er lernt Gabriella kennen, die einem verarmten ungarischen Adelsgeschlecht entstammt, nimmt sich eine kleine Wohnung, sitzt bis in die Nacht hinein vor dem Computer und wird schließlich Dauergast der Montagslesungen im Cafe Vorort, wo sich Literaturinteressierte treffen, um über das Schreiben zu diskutieren. Dabei fällt ihm Miriam auf, die ihn mit ihrer unkomplizierten, offenen und direkten Art begeistert.
Als er schließlich zufällig in eine Anti-Akademikerball-Demonstration gerät, rennt ihm Margot über den Weg. Obwohl seit ihrer Trennung 30 Jahre vergangen sind, kommen sich die beiden schnell wieder nah. Konrad zieht noch einmal bei ihr ein. Und plötzlich entsinnt er sich des in Vergessenheit geratenen Holzkoffers, dessen „Zettelalbtraum“ von Aufzeichnungen, die unter anderem auch Kinokarten, LP-Hüllen oder Restaurantrechnungen zieren, Konrad nun aufzuarbeiten versucht.
Während Margot vormittags in der Schule weilt, avanciert Melichars Vermächtnis zu seiner Lieblingsbeschäftigung. Doch gelingt es ihm nicht, aus all dem Geschriebenen so etwas wie eine Biografie herauszulesen. Schon die Vielzahl früherer Begegnungen hat diesbezüglich wenig gebracht, Melichar trotz spürbarer Sympathie auf Konrad immer wie eine Mauer gewirkt, durch die nichts durchdringt.
Was ihn letztlich davon abgehalten hat, sich als Schriftsteller zu versuchen, bleibt daher unklar. Trotzdem ist Konrad davon ausgegangen, dass Melichar einen Roman geplant haben könnte. Schließlich hat er geglaubt, er würde in dessen verstreuten Texten, „diesen Skizzen, Gedankensplittern, Impressionen, tagebuchähnlichen Blättern, Berichten, Selbsterfindungen“, einen inneren Zusammenhang entdecken.
Mit Fortdauer seiner Beschäftigung, aus der letztlich ein „Skript“ hervorgeht, ein aus der Ich-Perspektive erzählter Lebensbericht, in den viele Melichar zugeschriebene, philosophisch grundierte Bemerkungen sowie diverse Zitate eingeflossen sind, die dem Ganzen den Charakter eines Journals verleihen, wird aber immer mehr klar, dass Melichar den nicht geschriebenen Roman lieber gelebt hat. Als ob er beweisen hätte wollen, „dass es – statt einen Roman zu schreiben – die größere Kunst sei, keinen Roman zu schreiben“.
Konrad, dem Roland Barthes‘ Abhandlung über Antriebe und Hemmnisse, die ein Schriftsteller vom Schreibenwollen zum Schreibenkönnen überwinden muss, seit Jahren als Brevier dient, schwebt vor, in der Art eines Jochen Greve, der Robert Walsers verstreute Texte aus der Berner Zeit zum endlos weiterschreibbaren Roman „zusammengestoppelt“ hat, Melichars Zettelwirtschaft aus Notaten, hingeworfenen Gedanken und Ideenskizzen, vollgekritzelten Heften, Blöcken und vielen einzelnen Blättern, die ihn an die Zettelkästen eines Arno Schmidt denken lassen, in eine Form zu bringen, die das Verfassen eines Romans mit dem Führen eines Tage- oder Notizbuchs verbindet.
Hier wird die Absicht des an Werken von Cioran, Joubert, Pessoa oder Handkes Journal ‚Das Gewicht der Welt‘ geschulten Autors Friedrich Hahn deutlich, dem es auf souveräne Weise gelingt, Apercus und Textsplitter, die sich unter fett gesetzten Hinweisen auf das Material, auf dem sie notiert sind, als kursive kleine, durch Leerzeilen von den Erzählpassagen getrennte Textblöcke abheben, mit einer handfesten nach- und weitererzählbaren Geschichte zu kombinieren.
Es entsteht dadurch ein abwechslungsreicher Roman, der Balance hält zwischen lebensweisheitlicher Strahlkraft und dem Glanz einer gut erzählten Story. Im Zusammenwirken ergeben die narrativen Sequenzen aus dem Leben des Ich-Erzählers, der unschwer als Alter-Ego des Autors zu erkennen ist, und jene Passagen mit kritischen Gedanken, Zitaten, philosophisch angehauchten Überlegungen und Alltagsweisheiten zu Themenbereichen wie: Mann/Frau, Liebe&Leben, Spleen, Alltägliches, Sprüche und Lebensweisheiten, Über das Schreiben etc. einen schmackhaften Textcocktail. In ihm darf man kritische Aussagen zum Klimawandel genauso genießen wie politische Seitenhiebe auf die „unselige Allianz der Blauen und Schwarzen“, Trostspender à la: „Es gibt immer Alternativen“ oder Befindlichkeitsanalysen die Person des Erzählers betreffend, der sich nach einem Leben sehnt, in dem er als sinnlicher Verführer und kühler Intellektueller doppelt besetzt wäre.
Als diesem der Verdacht kommt, „ein wenig von der Verschrobenheit Melichars angenommen zu haben“, legt er das Schreibprojekt ad acta. Übrig bleibt der hier vorliegende Roman. Und weil ja – wie aus einer Melicharnotiz auf einem „Collageblock, A4, liniert, Seite 20, groß und schräg über die ganze Seite, schwarze Farbe (Pinsel?)“ hervorgeht – ein Schriftsteller jemand ist, „der sein Leben nur erträgt, indem er es erzählt“, sind von Friedrich Hahn, der in 40 Jahren 40 Bücher und an die 20 Arbeiten für Hörfunk und Bühne vorgelegt hat, gleich noch drei weitere Neuerscheinungen für 2019 zu vermelden: der Lyrikband „neben deinen fußnoten mein alter schuh“ (Verlag Berger), der einen aus kleinen Textblöcken bestehenden Zyklus und die zwischen 2015 und 18 entstandenen neuen Gedichte des Autors versammelt, in denen er mit Assoziationen und Sujets spielt und (wie Andrea Vordernwald meint) Funken der Poesie versprüht; die sich um ein Panoptikum menschlichen Leidens drehende Erzählung „Erzähl mir nichts“ (Edition Roesner) sowie der zwischen Roman und privater Arbeitsbiografie changierende Band „Der Autor steht für Lesungen und Pressetermine NICHT zur Verfügung. Eine Nahaufhörerfahrung“ (Bibliothek der Provinz), der rund um den Ausstieg aus dem Literaturbetrieb angesiedelt ist, welcher, je mehr er in den Blickpunkt gerät, umso mehr in die Ferne rückt.
So etwas verwundert keineswegs, sieht es doch bei Friedrich Hahn, der Ideenmangel als allerletztes zu spüren scheint, eher danach aus, dass es ihm mehr Kraft kostet, nicht zu schreiben, als zu schreiben. Wenn daher sein Protagonist Konrad Schramm zu dem Schluss kommt, dass Melichar „das Zeug zu einem großen Dichter“ gehabt hätte, dann darf dieser zweifellos auch auf ihn selbst Anwendung finden.

Friedrich Hahn Melichar
Roman.
Graz: edition keiper, 2019.
154 S.; geb.
ISBN 978-3-903144-92-7.

Rezension vom 10.12.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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