#Anthologie

Melange der Poesie

Barbara Rieger

// Rezension von Sabine Schuster

„Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Wiener Kaffeehäusern?! Ich bin total dagegen! – Aber, verdammt, ich schreibe in Wien und trinke zu gern Kaffee! (Nur, weil es ein Klischee ist, heißt es nicht, dass es nicht wahr wäre)“
Teresa Präauer, Café Schwarzenberg

Teresa Präauer bringt in ihrem Statment erfrischend direkt zur Sprache, welche Klischees hinter dem Buchtitel Melange der Poesie lauern, und glücklicherweise ist sie nur eine von vielen Autorinnen in diesem Band, die dem Schreiben im Kaffeehaus einen neuen Stempel aufdrücken: Sehr gegenwärtig und sehr weiblich, weit weg von den illustren Herrenrunden des Fin de Siècle, deren „Kaffeehausliteratur“ im Lauf der Zeit zu einem festen Terminus der Literaturgeschichte geworden ist. Nur ein Hauch ihres Zigarrenduftes weht noch in ausgesuchten Zitaten durch dieses schön gemachte Buch, um Autoren wie Peter Altenberg, Anton Kuh oder Alfred Polgar die Referenz zu erweisen und eine Brücke zwischen den Zeiten zu schlagen.

Zahlreiche Brücken baut Barbara Rieger bereits in ihrem Vorwort, in dem sie die Geschichte des Wiener Kaffeehauses kurz nachzeichnet, vom Ende des 17. Jahrhunderts bis heute, wo die Wiener Kaffeehauskultur zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Was damals und heute gleichermaßen zählt, brachte Stefan Zweig 1942 in seiner „Welt von Gestern“ zum Ausdruck: Das Wiener Kaffeehaus sei eine Institution der besondern Art, „eigentlich eine Art demokratischer, jedem für eine billige Schale Kaffee zugänglicher Klub, wo jeder Gast für diesen kleinen Obolus stundenlang sitzen, diskutieren, schreiben, Karten spielen, seine Post empfangen und vor allem eine unbegrenzte Zahl von Zeitungen und Zeitschriften konsumieren kann.“ Im Idealfall ist das bis heute so, allerdings haben die im Buch Portraitierten den Begriff des Kaffeehauses zeitgemäß erweitert, hier um ein Szene-Café, dort um ein Beisl, Wirtshaus oder Restaurant ihrer Wahl.

Der Fotograf Alain Barbero und die Textautorin Barbara Rieger widmen den Orten ihres Buches gleich viel Raum wie den AutorInnen, jeweils ein ganzseitiges Foto und eine Textseite, die auf das jeweilige Lokal, seine Geschichte, seine Besitzer und berühmten Gäste eingeht. Der Band funktioniert somit als Kaffehaus-Führer ebenso gut wie als literarisches Lesebuch, und das Inhaltsverzeichnis samt dem stilisierten Stadtplan auf dem Vorsatzblatt ist auf jeden Fall inspirierend für Erkundungen der Bezirke abseits der gewohnten Wege, im besten Fall mit dem passenden Text im Ohr.

57 österreichische SchriftstellerInnen haben sich auf das Foto- und Schreib-Projekt eingelassen. Entstanden sind ebenso persönliche wie poetische Schwarzweiß-Bilder und dazu literarische Miniaturen aller Stilrichtungen, die Auswahl enthält eine bunte Melange aus bekannten und neuen Namen, von der „Grand Dame“ der österreichischen Dichtung Friederike Mayröcker, aufgenommen im traditionellen Café Sperl, über den stadtbekannten Kaffeehausgeher Robert Schindel im Café Prückel bis zur Debutautorin Katharina Ferner im Café Kafka oder den Kremayr & Scheriau-Hausautorinnen Marianne Jungmayer und Irmgard Fuchs, erstere im Café Drechsler am Naschmarkt, letztere Am Heumarkt fotografiert.

Robert Prosser posiert im Alt Wien, dessen berühmtester Stammgast einst Helmut Qualtinger war. Für seinen aktuellen Roman Phantome hat Prosser zahlreiche Interviews mit Kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien geführt, in sorgfältig ausgesuchten Wiener Cafés, nicht zu überfüllt, nicht zu intim. Lydia Mischkulnig sitzt im Corbaci im Wiener Museumsquartier mit seiner orientalisch anmutenden Kuppel, ihr Text Ode an die Einzelgängerin thematisiert Aufbruch und Erinnerung – ein Sujet, das im Buch immer wiederkehrt, etwa bei Julya Rabinowich, die „an der Grenze zwischen Kindheit und Erwachsenwerden“ viel Zeit im Café Diglas auf der Wollzeile verbrachte und dort an ihrem ersten Roman Spaltkopf arbeitete. Margret Kreidl hat gar ein eigenes Sonntagscafé, das Eiles, wohin sie flieht, wenn ihr Stammcafé zu voll und verraucht ist. Sabine Gruber beschreibt das Café Else in der Praterstraße, „eine Art buchtelloses Hawelka am Praterstern“, das 1978 als „Anbahncafé“ eröffnet wurde, in dem „rechts die Nutten und links ein Gemisch aus Leopoldstädtern und Leuten aus der Kunstszene“ saßen.

Im echten Hawelka, dem legendären Künstlercafé in der Dorotheergasse, besungen im Lied Jö schau von Georg Danzer, träumt dann tatsächlich der Autor Franzobel von den berühmten Buchteln.

„Europa ist ein Café in Wien“, postuliert Gerhard Ruiss, umstrahlt von den extravaganten Lampen des Szene-Cafés Europa in der Zollergasse, wo einst der Musiker Falco Stammgast war. Dessen Song Europa von 1999 ist im Zitat nachzulesen und klingt heute noch aktueller als damals: „Ich seh euch allesamt Revue passieren, / große Söhne, große Männer von der Welt. / Worüber heute ihr bevorzugt noch nicht / sprechen wollt, / ist die Farbe, die euch so gefällt. / Es weht ein andrer Wind und wer, / wer garantiert, dass wir uns morgen noch / gegenüberstehn, / um irgendwohin zu gehen. / – Wir werden sehn.“

Am Heumarkt lehnen Irmgard Fuchs und Wilma Calisir malerisch in den Polstern, die beiden jungen Autorinnen arbeiten an gmeinsamen Filmprojekten. Fritz Widhalm geht gerne und oft ins Jelinek, aber nicht um zu dichten, sondern um Kaffee zu trinken, der auf seinem Schreibtisch daheim im Fröhlichen Wohnzimmer keinen Platz hat. Im Café Korb treffen wir Marlen Schachinger, die ihre Blicke durchaus absichtsvoll schweifen lässt: „wahrnehmen, nachdenken, den Menschen auf den Mund schauen, notieren …“das alles bei einem „Einspänner“, dem Kaffee der Fiaker-Kutscher. In Wiens elegantestem Kaffeehaus, dem Landtmann am Ring, sinniert Gerhard Jaschke, mit welchen Größen er hier schon ins Gespräch hätte kommen können – aber wer hätte es schon gewagt, Thomas Bernhard bei der Zeitungslektüre zu stören oder George Tabori aus seiner Versunkenheit zu ziehen? In Tokio habe übrigens 2009 ein Ableger des Landtmann eröffnet, schreibt Barbara Rieger. Dafür lacht uns Ilse Kilic verschmitzt aus dem Café Neko entgegen – Wiens erstes Katzencafé in der Inneren Stadt, nach japanischem Vorbild. Florian Gantner beschreibt uns im Café Mocca den Dachsbau aus Kafkas letzter Erzählung, und Judith Nika Pfeifer sehen wir im Café Nil, eingefügt zwischen Fliesen-und Schachbrettmuster, am Boden sitzend: „sie haben den nil getrocknet / nach wien gebracht / hier sitzt er nun und wartet (…)“.

Noch viele Namen wären zu nennen, Susanne Gregor etwa mit einer kleinen flüchtigen Textskizze im Phil, das gleichzeitig Café und Buchhandlung ist, Gabriele Petricek, die sich im Café Westend an die früh verstorbene Adelheid Dahimène und ihre Leidenschaft fürs Rauchen erinnert – „Schwarz, deine Lunge. Ihre Seele aber eine schneeweiße Windbäckerei, luftig.“ Auch Gustav Ernst lässt im Café Engländer DichterkollegInnen auferstehen, unter anderen Elfriede Gerstl, die gemeinsam mit ihrer Freundin Elfriede Jelinek viel Zeit in Kaffeehäusern verbrachte. Ganz zuletzt sei noch Dieter Sperl erwähnt, der Herausgeber der flugschrift, der, im Café Zartl lässig an die Theke gelehnt, leichthin formuliert wie das Leben so geht: „Immer mit Wünschen. / Absichten. Komm ich daher. / Wo doch Absichtslosigkeit. Zu Sternen / erhebt.“

In ihrer Vielfalt ist Melange der Poesie eine wahre Fundgrube für Literaturinteressierte und Wien-Flaneure. Einerseits ein gediegenes Fotobuch, das in Zeiten von Snapchat der sorgfältig inszenierten Schwarzweißfotografie huldigt und dabei unvergleichlich intime Momente herstellt. Andererseits Zeugnis einer quicklebendigen Wiener Szene, die das Kaffeehaus nutzt wie eh und je: als Treffpunkt, als Rückzugsort, als Schreibort und nicht zuletzt für Auftritte, etwa bei den Literatursonntagen im Café Anno, das sich als Nachwuchsbühne etabliert hat.

Natürlich zeigt der Band auch das ganz persönliche Wien-Bild von Barbara Rieger und Alain Barbero, die seit 2014 den Blog Café Entropy betreiben, hier hat das aktuelle Buchprojekt seinen Anfang genommen, hier finden sich zahlreiche weitere Portraitfotos von Menschen in Cafés und korrespondierende literarische Kurztexte, diese sind zudem ins Französische und Englische übersetzt.

Alle portraitierten AutorInnen:
Renate Aichinger · Martin Amanshauser · Bettina Balàka · Armin Baumgartner · Daniel Böswirth · Wilma Calisir · Lucas Cejpek · Gustav Ernst · Katharina Ferner · Franzobel · Irmgard Fuchs · Petra Ganglbauer · Florian Gantner · Susanne Gregor · Marianne Gruber · Sabine Gruber · Elfriede Hammerl · Petra Hartlieb · Peter Henisch · Christine Huber · Karin Ivancsics · Gerhard Jaschke · Marianne Jungmaier · Saskia Jungnikl · Nadine Kegele · Ilse Kilic · Gertraud Klemm · Margret Kreidl · Erika Kronabitter · Friederike Mayröcker · Melamar · Lydia Mischkulnig · Niklas L. Niskate · Gabriele Petricek · Judith Nika Pfeifer · Teresa Präauer · Robert Prosser · Julya Rabinowich · Tanja Raich · Sophie Reyer · Barbara Rieger · Anna Robinigg · Gerhard Ruiss · Marlen Schachinger · Robert Schindel · Margit Schreiner · Dieter Sperl · Angelika Stallhofer · Michael Stavari? · Marion Steinfellner · Erik Tenzler · Cäcilia Then · Günter Vallaster · Hubert Weinheimer · Fritz Widhalm · Herbert J. Wimmer · Jörg Zemmler

Melange der Poesie.
Wiener Kaffeehausmomente in Schwarzweiß.
Mit über 100 Schwarzweiß-Fotografien.
Wien: Kremayr & Scheriau, 2017.
256 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-218-01082-5.

Homepage der Autorin

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 21.09.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.