#Prosa

Meine konspirative Kindheit und andere wahre Geschichten

Walter Klier

// Rezension von Martina Wunderer

Der Sprachgestus in Walter Kliers biografischem Erzählband erscheint zunächst der mündlichen Erzähltradition verpflichtet, der Leser fühlt sich eingeladen, sich neben dem Autor auf die Ofenbank zu setzen und mit ihm in alten Tagebüchern und Familienalben zu blättern und den Anekdoten zu lauschen, die er dazu aus dem Gedächtnis kramt.

Doch dieser Erzähler versteht sich auf sein Handwerk, er überlässt nichts dem Zufall, sondern konstruiert gekonnt Spannungsbögen und setzt geschickt die Pointen, mit einem untrüglichen Gespür für die skurrilen Details, die den Anekdoten die nötige Würze verleihen. Niemals gibt er die Erzählung aus der Hand, er beherrscht sie als Autor und Ich-Erzähler vom ersten bis zum letzten Satz und ist darin ganz der traditionellen Gattung der Autobiografie verpflichtet. Gesprengt wird diese seit der (Post)moderne verdächtig gewordene Gattung jedoch durch das Aufbrechen der linearen Chronologie. Anstatt seine Lebensgeschichte von der Geburt bis zum eigenen Sterben zu (be)schreiben, wirft Klier nur einzelne Schlaglichter auf Bruchstücke seiner Biografie, die keineswegs nur außergewöhnliche Momente des Lebens beleuchten, sondern durchaus auch Alltaggeschichte in den Blick nehmen, die Peinlichkeit der ersten Tanzstunde etwa oder das schlechte Gewissen beim Kauf von Lychees und anderen „Hungerfrüchten“.

Keine falsche Zurückhaltung oder Bescheidenheit, keine leeren rhetorischen Phrasen oder Gemeinplätze verstellen den Blick auf die Umwelt und die „Artgenossen“, „Bekannten“, „alten Freunde“, „Nahversorger“ und „Verleger“ des Autors, doch will er in seinem Zeit- und Gesellschaftsportrait, so ehrlich und unbeschönigt es sich auch darstellt, niemals durch Geschmacklosigkeit oder Boshaftigkeit provozieren oder verletzen. So sind seine Beschreibungen stets gebrochen von wohlwollender Ironie und schwarzem, jedoch niemals zynischem Humor, mit einem schelmischen Augenzwinkern nimmt er ihnen die Schärfe, ohne jedoch die Konturen der Darstellung zu verwischen. Denn den Anspruch auf Authentizität erhebt Klier schon im Titel, wenn er verspricht, „wahre Geschichten“ zu erzählen. Dieser Anspruch mag nach der Erfahrung der Moderne und Postmoderne als unerfüllbar, gar als naive Selbstüberschätzung des Autors erscheinen, doch Klier selbst spielt (und darin ist er durchaus postmodern, um ihm dieses bisher vorenthaltene Prädikat, wie er im Buch beklagt, nun doch zuzugestehen) mit diesem vorweggenommenen Wahrheitsanspruch, indem er ihn im Text selbst wieder zurücknimmt und die zunächst bemühte Autorität durch Autorschaft skeptisch in Frage stellt: „Er nahm die Einladung an, und nach dem Kaffee (das kann nicht stimmen, bei uns gab es keinen Kaffee nach dem Essen, aber wie soll man ein Mittagessen sonst beenden?) spielten wir Tischtennis […].“ So reflektiert Klier in diesem eingeschobenen Klammersatz die Tücken des Gedächtnisses, die Leerstellen und Lücken der Erinnerung, die in einem Prozess der literarischen Überformung nachträglich mit neuen, dem Text zuträglichen Bedeutungsinhalten gefüllt werden. So sind diese Geschichten nur „wahr“ in einem innerliterarischen Erzählkontext, der sich jedoch nicht hermetisch nach außen abschließt, sondern stets auf den realen historischen und sozialpolitischen Kontext verweist.

Klier umreißt in seinen Erzählungen die gesellschaftliche Grundstimmung der Nachkriegsjahrzehnte in ihrer jeweiligen regionalen Ausprägung und Gewichtung. Für jedes Jahrzehnt benennt er eine prägende kollektive historische Erfahrung: war es in den frühen sechziger Jahren der Südtiroler Befreiungskampf, in den er als Sechsjähriger zwar nicht aktiv, doch als Mitwisser einer Konspiration verwickelt war, so ist es für die siebziger Jahre die 68er Revolution, denn der Ruf nach Auflehnung und Protest (in Gestalt von langen Haaren) konnte nur zögerlich bis ins konservative Tirol durchdringen. Als wohl prägendste politische Erfahrung der Nachkriegszeit gilt selbst ihm als Österreicher die Realität des geteilten Deutschland und der Wiedervereinigung 1989, zu welchem Zeitpunkt er als Stipendiat in Berlin weilte, jedoch tatsächlich den historischen Augenblick des Mauerfalls verschlief.

In diesem Sinne wird die kollektive Erfahrung einer Gesellschaft stets durch das persönliche Erleben des Autors gebrochen. Er bemüht keine reine Daten- und Faktengeschichte, sondern befreit die dargestellten historischen Ereignisse vom Staub der offiziellen Geschichtsschreibung, indem er sie aus der Perspektive der persönlichen Geschichte beschreibt und sie allein dadurch dem heutigen Leser als authentische Erfahrungen näher bringt.
Entstanden sind in dieser Rückschau auf fünfzig Jahre eines Lebens Erzählungen im Zeichen der Literatur, Splitter einer Schriftstellerbiografie, die sich erst vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte und des sozialen Kontextes des Autors erschließt. Der Leser begleitet Klier nicht nur auf seine literarischen und weniger literarischen „englischen Reisen“, sondern folgt ihm auch auf den Spuren und Umwegen seiner Lehrjahre hin zu seinem ersten Roman; angefangen von der Redaktion des Garneider Blattes des Königreiches Eulenien im Waldstück hinter dem Haus als Feuerprobe für die Mitarbeit an einer Studentenzeitung führt sein steiniger Weg über ein „geisteswissenschaftlich-barbarisches Doppelleben“ als Autor von „Führern“ und von „richtigen Büchern“ über die Prostitution als Verfasser eines „heimatkundlichen Softpornos“ für eine ORF-Fernsehserie hin zu Verrissen von Romanen anderer Autoren, wie des ehrwürdigen, bei der Frankfurter Buchmesse unerkannten Schweizers Hugo Loetscher, bis am Ende tatsächlich der erste eigene Roman vorliegt. Aus dem „Käufer und Leser“, aus dem Drehbuchschreiber und Buchkritiker ist sodann endlich ein „Schreiber, Schriftsteller, manchmal sogar Dichter“ geworden, sodass er seine Berufsbezeichnung guten Gewissens von „Geisteswissenschaftler“ zu „Schriftsteller“ umändern darf. Doch es scheint fortan ein Fluch auf seinen Werken zu liegen, denn sie bedeuten für den jeweiligen Verleger in einem geheimnisvollen kausalen Zusammenhang den sicheren Weg ins Verderben, den finanziellen Bankrott, handelt es sich bei seinen Romanen doch allesamt um „Nicht-Ecos“:
„Die Welt der Bücher zerfällt in Ecos und Nicht-Ecos. Heute würde man wohl besser sagen: Crichtons und Nicht-Crichtons. Die Ecos sind die, die palettenweise kommen und von der Kasse weg verkauft werden. Der Vorläufer des Ladenhüters ist der Nicht-Eco; […] Jeder Nicht-Eco ist da Sand im Getriebe, ein Stolperstein auf dem Weg zur reibungslosen Geschäftsgebarung. Wunderbar wäre die Welt, gäbe es auf ihr nur ein Buch.“

Klier hält nicht zurück mit seinem schonungslosen Portrait der Literaturszene in ihrer Unterwerfung unter die kapitalistischen Marktgesetze, doch gleitet er nie ab in pessimistisch-resignative Kritik, sondern bewahrt liebevoll-ironische Distanz und tiefgründigen Humor, wenn er das Elend des Buchhandels charakterisiert. So ertappt sich der Leser immer wieder dabei, dass er ob der schalkhaften Ironie und der spitzen Zunge des Autors in heiteres Lachen ausbricht, doch kann er sich eines leicht bitteren Nachgeschmacks nicht erwehren. Verpackt in funkelnden Sprachwitz diagnostiziert Klier nämlich in klarer Schärfe durchaus ernsthaft die Probleme des zeitgenössischen Buchmarktes, des Nahversorgungssystems und der politischen Umwälzungen: „Einmal das falsche Buch ins Schaufenster gelegt, und ein neuerlicher Sieg wenn nicht des Faschismus, dann doch des Sex-, Rass- oder Liberalismus wäre unaufhaltsam.“ Der Faschismusverdacht – gegen Kinder, die Spott mit Eigennamen treiben, die sich auf „Bier“ und „Hosentür“ reimen, gegen italienische Autos der Marke Fiat oder gegen den Klettersport, um nur einige der üblichen Verdächtigen zu nennen – ist es, der viele dieser Erzählungen durchzieht, jedoch in der Rückschau immer wieder ironisch gebrochen wird.
Vor dieser stets ins Schwarze treffenden Ironie bleibt auch der Autor selbst nicht verschont, ungeschminkt setzt er die eigenen Schwächen ins Bild, beobachtet sich selbst, wie er sich stets aufs Neue und wider besseres Wissen heillos in der Komödie des Alltags verliert. Doch wie mit seinen doch recht exzentrischen Mitmenschen geht er auch mit sich selbst nicht zu hart ins Gericht, sondern gesteht sich schmunzelnd diese durchaus menschlichen Schwächen zu. Diese heitere Gelassenheit und augenzwinkernde Distanz bestimmt den Grundton der Erzählungen, der noch in der scharfsichtigsten Gesellschaftskritik als Hintergrundmusik zu vernehmen ist und so dem Leser ein (fast) ungetrübtes Lesevergnügen schenkt.
Mit derselben ironischen Gelassenheit begegnet Klier nicht nur den sprichwörtlichen Leiden, sondern auch Freuden seines Schriftstellerdaseins, ob es sich dabei um ein Stipendium oder um die Begegnung mit den Größen und weniger Großen der zeitgenössischen Literaturszene handelt, die die Seiten der Erzählungen bevölkern. Wenn sich der Leser in andächtigem Staunen die klingenden Namen Norman Mailer, Thomas Pynchon, Martin Walser oder Salman Rushdie auf der Zunge zergehen lassen will, nimmt ihn Klier an die Hand und führt ihn in leichtfüßiger Untertreibung aus der kontemplativen Erstarrung, um ihm diese Größen als Menschen näher zu bringen und zu würdigen, ohne dadurch jedoch ihre Leistungen herabzumindern. Im Gegenteil. So begegnet der Leser gemeinsam mit dem Autor in einer etwas schäbigen Berliner „Brösel-WG“, in einer „Küche mit viel dreckigem Geschirr, klebrigem Gasherd, Tisch voller Brösel und Kaffeeringe“ dem großen DDR-Dramatiker Heiner Müller, dem „weltberühmte[n] Heiner mit seinem schmalen weißen chinesischen Gesicht und den grässlichen Brillen“ zusammen mit seiner Freundin, der Schauspielerin Margaritha Breuch, „die gerade die Titelrolle der Minna von Barnhelm einstudierte.“ Dem großen Lessing zollt der Mann mit dem Allerweltsnamen, zollt Heiner Müller Respekt, mit Martin Walsers Werken macht er jedoch kurzen Prozess: „Das interessiert mich nich, dazu hab ich keine Zeit. Der macht kein‘ Text. Mich interessiert, wenn jemand Text macht.“

Texte, ob von Hand geschrieben, mühsam mit dem ersten eigenen Setzkasten gedruckt, auf Schreibmaschine getippt oder endlich auf Computer geschrieben, jedoch noch ohne das dringend gebrauchte, jedoch gerade nicht lagernde Word 6.0 Programm (Stichwort Nahversorger), ob eigene oder fremde, es sind stets Texte, die eine wichtige Referenzebene dieser Erzählungen bilden: „Wie jeder, der schreibt, muss ich viel lesen. Selbst wenn man die Bücher nicht liest (man kann nicht alles lesen), muss man wissen, was drinnen steht. Vom Vergnügen abgesehen, wird zur Anregung, zur Forschung oder zum Abschreiben das Verschiedenste benötigt,“ gesteht Klier, auch darin durchaus postmodern.

Zum Schriftsteller und Erzähler scheint Klier geboren zu sein. Schon als Kind im Kindergarten blickte er anfangs mit Schrecken, später mit Befremden auf seine Umwelt, als Beobachter trat er stets einen Schritt zurück, um das Geschehen gleichsam aus der Ferne zu betrachten und zu kommentieren, um es aus dieser ästhetischen Distanz heraus in einem zweiten Schritt in seinen Geschichten literarisch zu reflektieren, die nun beim Haymon Verlag erschienen sind, allen Unkenrufen zum Trotz, dass „Geschichten nicht gehen“. Kliers‘ ist ein Leben im Zeichen der Literatur, oder, wie es der große Romancier Gabriel Garcia Marquez im Titel seiner Memoiren beschreibt, ein „Leben, um davon zu erzählen“. Der Leser wird diesen Erzählungen mit Genuss lauschen.

Walter Klier Meine konspirative Kindheit und andere wahre Geschichten
Erzählungen.
Innsbruck, Wien: Haymon, 2005.
191 S.; geb.
ISBN 3-85218-488-6.

Rezension vom 22.12.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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