#Prosa

Mein erster Mörder

Vladimir Vertlib

// Rezension von Peter Landerl

Vladimir Vertlib, 1966 in Leningrad geboren und nach Aufenthalten in Israel und den Vereinigten Staaten schließlich seit 1981 in Österreich, weiß, was es heißt, seine Heimat zu verlieren und an einer neuen zu bauen. Von Heimatlosen, Vertriebenen, Ausgeschlossenen hat Vertlib in seinen bisherigen Publikationen erzählt. Auch in seinem neuen Buch, dem Erzählband Mein erster Mörder, geht es um Vertriebene in Raum und Zeit. Seinem Buch hat er den euphemistischen Untertitel „Lebensgeschichten“ beigefügt, wohl eher zutreffend wäre die Bezeichnung „Überlebensgeschichten“. Darum geht es nämlich im Buch: von den katastrophalen Irrungen und Wirrungen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht verschlungen zu werden.

In der ersten Geschichte Mein erster Mörder geht es eigentlich um zwei Mörder, Leopold Ableitinger und seinen Vater. Leopold wächst nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Wiener Proletenfamilie auf. Die Wohnung ist eng, darum muss der Halbwüchsige mit der alten, kranken, keifenden Großtante ein Zimmer teilen. Leopold ist intelligent, darf als Arbeiterkind aufs Gymnasium, was ihm jedoch viele Bürden auflädt. Als er sich für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs interessiert, empfiehlt ihm der Direktor mit durchaus drohendem Unterton, doch lieber über die Türkenkriege und Prinz Eugen zu lesen. Leopold erfährt, dass sein schwacher, doch brutaler Vater in Kriegsverbrechen verwickelt war. Doch das war in einer Zeit, in der „das Verbrechen zur Pflichterfüllung erklärt worden ist.“ Schließlich setzt Leopold eine irrationale Tat, mit der er dem verhassten Vater nachfolgt: „Ich betrachtete den Schatten von Großtantes Nase auf dem Lampenschirm. Er zitterte und wurde immer schneller. Wie der Schnabel eines Spechts bei der Arbeit, dachte ich. Ich wollte, dass er sich nicht mehr bewegt.“

In „Ein schöner Bastard“, der zweiten Geschichte des Buchs, wird von einem 1900 im heutigen Tschechien geborenen Deutschen, Halbjuden, gläubigen Christen, der zugleich auch Marxist und erfolgreicher Geschäftsmann ist, erzählt. Dass seine vielschichtige Identität ab den 1930er Jahren ständig Probleme bereitet, ist nicht verwunderlich. Den Krieg überlebt er nur knapp. Auch in der kommunistischen Tschechoslowakei findet er sich nicht zurecht, sodass er schließlich Frau und Tochter verlässt und nach Wien auswandert. Dort schreibt er, der trotz aller Schikanen und Schicksalsschläge seinen Idealen von einer liberalen, toleranten und solidarischen Gesellschaft nicht abgeschworen hat, Artikel für die Arbeiterzeitung, von denen keiner jemals abgedruckt wird.
Den Abschluss des Buches bildet die Erzählung „Nach dem Endsieg“. Karl und Robert beschließen, nicht für Hitlers Armeen zu kämpfen. Sie flüchten von Wiener Neustadt über Kärnten nach Jugoslawien, ihr Ziel ist Palästina. In Jugoslawien dürfen sie der Polizei nicht in die Hände fallen, kommen bei Bauern unter, landen in Sarajewo, von dort geht es zur Küste, immer begleitet von Hunger und der Angst, erwischt zu werden. „In einer Notsituation geht es ja immer ums Nahziel. Was mache ich in den nächsten vierundzwanzig Stunden? Oder wo bekomme ich eine ordentliche Mahlzeit her, nachdem ich zwei Tage keine mehr gehabt habe.“ Vertlib schildert eindrucksvoll das Wechselbad der Gefühle solch einer Flucht, die Gerüchte, denen kaum zu trauen ist, das immer nur vorläufige Gefühl der Rettung in ausweglosen Situationen, die Hoffnungen, die stets enttäuscht werden, vielmalige Konsulatsbesuche mit dem Ziel, ein Visum ausgestellt zu bekommen. Strohhalme statt Rettungsanker.
Als den beiden klar wird, dass sie es nicht bis Palästina schaffen, flüchten sie nach Italien, um sich in die Fremdenlegion einzuschreiben. Karl gelingt es, Robert wird verraten und nach Deutschland ausgeliefert.

Drei spannende Geschichten, drei verschlungene, erzählenswerte Lebensläufe. Und doch schlägt man das Buch nicht gänzlich befriedigt zu. Etwas stimmt nicht mit den Geschichten. Problematisch sind folgende, zugegeben redliche Sätze, die Vertlib seinen Erzählungen vorangestellt hat. „Die folgenden drei Prosatexte haben einen realen Hintergrund. Dennoch sind viele der beschriebenen Ereignisse frei erfunden oder haben sich in der Realität etwas anders zugetragen. Einzelne historische Details sind der Dramaturgie der Texte untergeordnet. Die Personenzeichnung einiger Figuren weicht zum Teil von den realen Vorbildern ab. Die meisten Namen, soweit es sich nicht um bekannte historische Persönlichkeiten handelt, wurden geändert. Die Geschichte „Nach dem Endsieg“ basiert im wesentlichen auf den Erinnerungen des Wiener Malers Roman Haller.“

Vertlib widmet das Buch auch Roman Haller, in der Erzählung nennt er ihn aber Robert Hamminger. Das sorgt für unnötige Verwirrung. Warum den Namen ändern, wo doch ganz klar ist, wessen Geschichte erzählt werden soll? Hat der Leser Lust auf eine manipulierte Geschichte? Wo hat Vertlib eingegriffen, wo hat er die Chronologie verändert? Welche falschen Effekte sollen auf Kosten der Glaubwürdigkeit erzeugt werden?
Wäre es nicht besser gewesen, einen betont nüchternen, präzisen, berichtenden Erzählstil anzuwenden wie Erich Hackl es in bewundernswerter Weise vormacht oder aber, ganz im Gegenteil, die realen Schicksale dreier Menschen nur als Folie aufzugreifen, um daraus drei wirklich literarisch gestaltete Geschichten zu erzählen und damit einen literarischen „Mehrwert“ zu schaffen, mit aller erzählerischen Freiheit, die der Leser dem Autor gerne zubilligt? Hier aber, und dieses Gefühl war beim Lesen des Buches ständig präsent, hatte man den Eindruck, weder Fisch noch Fleisch, also weder Fakt noch Fiktion vor sich zu haben. Deshalb fällt auch die Identifikation mit den Protagonisten schwer.
„Ein Aufnahmegerät steht auf dem Tisch, Weinflasche und Gläser. Die Stehlampe taucht den Raum in ein warmes Licht. Robert Hamminger erzählt bereitwillig, fast im Plauderton, von Ereignissen, die mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen, erzählt, als wäre es die Geschichte eines Freundes, den er vor langer Zeit gekannt hat, macht hin und wieder eine Pause, schenkt Wein nach, schweift ab, flicht die eine oder andere Anekdote ein. Das Erzählte kommt mit einer über die Jahre erarbeiteten Sicherheit daher. Doch wenn man ein feines Ohr für Zwischentöne hat, spürt man die Spannung, die sich weder im Wein ertränken, noch im Schmerz auflösen lässt.“

Abgesehen davon, dass manche Formulierungen hier doch ein wenig kitschig-redundant geraten sind, soll solch ein Verfahren Nähe zum Leser schaffen, ihm das Gefühl geben, dem Gespräch „live“ beizuwohnen, lässt ihn aber in einen faulen Apfel beißen, weil hier eben nicht von Roman Haller, sondern von Robert Hamminger, der doch eigentlich Roman Haller ist, erzählt wird.
Keine Frage, Vertlib erzählt kurzweilige Geschichten, sein Stoff ist ausgezeichnet, doch sein Erzählverfahren kann kritisch gesehen werden. Doch sollte ein einzelnes Urteil den Leser nicht davon abhalten, sich Mein erster Mörder zu kaufen und die Probe aufs Exempel zu machen.

Vladmir Vertlib Mein erster Mörder
Lebensgeschichten.
Wien: Deuticke, 2006.
256 S.; geb.
ISBN 3-552-06031-6.

Rezension vom 13.03.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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