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Mein Bruder, der Stadtrand und ich

Erland Maria Freudenthaler

// Rezension von Wolfgang Kauer

In seiner autobiografischen Erzählung verarbeitet der in Wien lebende Komponist Erland Maria Freudenthaler die Beziehung zu seinem jüngeren Bruder und ihre gemeinsamen Jugendjahre am Stadtrand von Linz an der Donau.

Der Text bietet eine erfrischende, weil selbstkritische Schilderung autobiografischer Ereignisse: „… Obwohl ich sicher bin, dass meine damals überbordende Fantasie einige Details in ein bizarres Licht getaucht hat, so klingt doch der Großteil der Geschehnisse plausibel und sehr vertraut. Der Rest lässt sich, so man nicht an übernatürliche Dinge glaubt, mit dem Umstand erklären, dass Vergangenes, immer und immer wieder erzählt, Ausschmückungen erfährt, die das Erzählte immer und immer wieder von Neuem interessanter machen sollen.“ (S.12)

Mit wenigen Strichen umreißt der Autor den Charakter seiner Mutter, in der man seine eigene zu erkennen glaubt: „Meine Mutter war eine typische Hausfrau ihrer Zeit. Sie kümmerte sich um den Haushalt und darum, dass es allen gut ging. Vor allem uns zwei Brüdern, ihrem Ein und Alles. … Die Mutter hatte – was sollen denn die Nachbarn sagen – das Fenster geschlossen, sodass kein Laut von außen in die Küche drang. … Immer dann, wenn etwas passiert war – und es passierte fast immer nur meinem Bruder etwas –, war er der Kleine, der nur ein wenig Mist gebaut hatte, war nur ein kleines Malheur passiert, ein klitzekleines Missverständnis. Es war der Versuch, die Strenge des Vaters in Milde zu verwandeln. Was ihr auch stets gelang.“ (S.14f)

In humorvoller Stilisierung schildert der Autor nun kindliche wie jugendliche Eindrücke von einer rasch wachsenden Landeshauptstadt: unkomplizierte Lagerbildungen im damals reichlich vorhandenen Angebot an Spielkameraden, Schlammschlachten mit Neusiedlern an den Stadtrandäckern, diplomatisches Verhandeln zwischen den Gegnern im Spiel, die Anziehungskraft eigener wie fremder Betonkeller, irritierende Begegnungen mit skurrilen Armutsopfern, den Seifenduft der Wäsche auf der Leine im Hinterhof, Belohnungen in Weidenkörben, getauschte Heereswohnungen wegen Familienzuwachs, ungeliebten Blockflötenunterricht, den Verlust der kindlichen Jungfräulichkeit durch Vergiftung des Glaubens an den Osterhasen, eine Verliebtheit am detaillierten Beschreiben, die sich zum Traum, Schriftsteller zu werden, entwickelt etc.

Der Wiener Komponist legt natürlich Wert darauf, seine eigene musikalische Entwicklung mit der seines jüngeren Bruders zu vergleichen. Dessen selbst abgeguckte Gitarrenriffs haben im engen Zuhörerkreis der Familienmitglieder zunächst mehr Erfolg als der Vortrag des klassischen Klavierrepertoires, das der angehende Komponist durchlaufen muss. Nach anfänglichen Zweifeln bestätigt sich jedoch das eigene Musiktalent, erste Musikerfolge bei Klavierwettbewerben stellen sich ein. Doch gegenüber den Mädchen muss der Pianist dem Gitarristen-Bruder das Feld überlassen. Eine Geschlechterbeziehung endet, bevor sie noch begonnen hat, denn mit der vermeintlichen Freundin zieht bald der mit leichter Gitarre bewaffnete Bruder an den Linzer Schlossberg.

Selbst eine ihn entstellende Wunde am Kopf ändert nichts am Erfolg des Gitarrenbruders bei den Frauen. Der Autor ist von dieser Wunde, Ergebnis eines kindlichen Unfalls mit der Küchen-Glastür, geradezu gebannt, denn sie scheint der Schlüssel zwischenmenschlicher Zuwendung zu sein: „Mit brüchiger Stimme und einer Mischung aus Schalk und Entsetzen in seinen Augen flüsterte er (der Bruder): „Hab ein Loch!“ Es klang fast tonlos. Und beinahe unbeteiligt. Wie ein lapidarer Kommentar. Dann lächelte er plötzlich, ein spitzbübisches Lächeln, … schloss langsam die Augen und sank ohnmächtig an die Brust des Vaters.“ (S.17) „Ja, mein Bruder genoss es! Er war unendlich stolz auf seine Wunde. Den Dreiwortsatz „Hab ein Loch!“ hat er immer wieder von sich gegeben und dabei die wehmütig mitfühlenden Blicke und Zuwendungen aller Freunde und Verwandten auf sich gezogen. Ich muss zugeben, dass ich mich ein wenig zurückgesetzt fühlte. Ich war ein kleines bisschen eifersüchtig. …“ (S.12)

Der Autor beschreibt die Wunde des Bruders und ihre Veränderungen überaus penibel, ist von ihr geradezu fixiert: “ … Die Tiefe der Wunde, ein dunkler Kraterschlund, ist nicht festzustellen, da ich mich, obwohl mein Bruder schläft, nicht getraue, sie zu vermessen. Ich muss ohnehin sehr vorsichtig sein, die Haare, die darüber liegen, beiseitezuklemmen, um das Loch im Kopf meines Bruders einer eingehenden Betrachtung unterziehen zu können. Und ein unbestimmtes Gefühl der Angst erfüllt mich, wenn ich mich dunkel an Unheimliches erinnere, das mit dem Loch in Zusammenhang steht. Soweit ich es trotzdem sehen kann, ist der Wundkanal außergewöhnlich glatt und rotbraun, wobei die Farbe immer dunkler wird, je weiter man versucht, hinunterzusehen. So als würde man sich über einen tiefen Brunnen beugen, verliert sich die Farbe in der Tiefe immer mehr in Richtung Schwarz. Daher kann ich auch nicht genau sagen, ob die Wunde tatsächlich so tief ist, wie in den mysteriösen Geschichten darüber behauptet wurde. Die Wundränder sind in einem etwas dunkleren Braun gehalten als die Haut nahe dem Wundkanal … Ein bisschen sieht seine Verletzung wie ein halb geöffneter Mund aus, mit dunkelbraunen Lippen und einer rotbraunen Mundhöhle, die in einen unergründlich tiefen Rachen führt. Aus diesem Schlund sind seltsame Geräusche zu hören. Der Wundkanal verstärkt offenbar die Laute, die der Körper des Schlafenden von sich gibt. So meine ich, daraus seinen Atem verstärkt hören zu können. Auch das Blubbern seiner Verdauung kann ich wahrnehmen. All das beruhigt mich. Welches Geheimnis scheint dieser Kanal ins Innere meines Bruders noch für mich bereitzuhalten? …“ (S.42f)

Das Interesse an der Kopfwunde des jüngeren Bruders verrät natürlich auch das anhaltende Interesse am eigenen Körper und dessen Veränderungen. Die mysteriöse Verletzung errettet den Bruder wiederholt aus kniffligen Situationen und offenbart sich dem Autor in immer neuem Licht. Erland Maria Freudenthalers unkonventionelle Erzählweise ist also geprägt vom nahtlosen Einfügen surrealer Elemente, die leitmotivisch geschickt montiert sind. So führt die Wunde am Kopf des Bruders ein surreales Eigenleben und wird zum Dingsymbol jugendlicher Sexualität. Somit lässt sich Freudenthalers Text zweifellos in eine Reihe stellen mit der Travestie „Der Stich“ des brasilianischen Surrealisten Gastao Cruls, die ebenso minutiös medizintechnisch die Reifung eines Abszesses schildert.

Die Technik des multiperspektivischen Erzählens bewirkt eine zunächst hohe Spannung, weil sie subjektive Wahrnehmungen relativiert. So werden auch fragwürdige Charaktere im Rotlicht-Milieu besser ausgeleuchtet und bestehende Rätsel gelöst. Aber gegen Ende hin führen die vier unterschiedlichen Blickwinkel (inklusive Epilog), vor allem die ausschnitthaft beschränkten Wahrnehmungen der Randfiguren, zu keinem Mehr an Erkenntnissen für die Lesenden. Das Erzählen aus der Sicht von nur zwei Figuren hätte die Amplituden der Spannungskurve besser abgesichert.

Erland Maria Freudenthaler Mein Bruder, der Stadtrand und ich
Erzählung.
Sipbachzell: Verlag am Rande, 2022.
131 S.; geb.
ISBN 978-3-903190-52-8.

Rezension vom 12.09.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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