Mayröckers Gedichtband stellt in diesem Sinne ein Kalendarium dar, das sich über sechs Jahre spannt (1996-2001). Das Zeit-Maß der Gedichte ist somit zwar von der Kalenderzeit durchdrungen, aber nicht von ihr bestimmt; es wird vielmehr durch den Rhythmus der einzelnen Gedichte selbst festgelegt. Nur die Jahreszahlen unterteilen die chronologisch aufeinander folgenden Gedichte und erinnern an jene andere, prosaische Zeitrechnung. Präzise dagegen ist diese festgehalten in dem Gedichtverzeichnis im Anhang, das die Entstehungsdaten der einzelnen Gedichte notiert. Wie Samuel Moser („Der Standard“) hierzu angemerkt hat, handelt es sich bei diesem Gedichtverzeichnis selbst um ein Gedicht. Es stellt eine Art Metagedicht dar, in dem die Fäden einer doppelten Buchführung und doppelten Zeitrechnung ineinander verknüpft sind. Und darum fällt hier eine Schlaufe auf, die eine Zeit- und Gedichtlücke zwischen dem 4. 6. 2000 und dem 3./4. 10. 2000 offen hält und eindeutig mit Ernst Jandls Tod (9. 6. 2000) in Verbindung steht. Dem unmittelbaren Schmerz dieses Verlusts verleiht die Autorin in ihrem „Requiem für Ernst Jandl“ (2001) Ausdruck. Das „Requiem für Ernst Jandl“ enthält neben einer Reihe anderer Bezüge auch zwei Gedichte, die in diesen Band aufgenommen sind. Der Tod Jandls steht somit nicht allein durch die Verzahnung der beiden Bücher in einem Engverhältnis zu den Gedichten dieses Bandes. Als (Vor)Ahnung und Erinnerung zieht er sich als „Spindel des Todes“ gleichsam durch den eigenen Körper des Ichs dieser Gedichte. Die Spur der eigenen Flüchtigkeit, denn es herrscht „gnadenweis / Tag“, bestimmt den Rhythmus der Gedichtzeit. Gelockt durch eine Hoffnung, „daß ich das Ende / hinauszögern könne“, eingeholt von der bitteren Verzweiflung, dass „alles vergeblich / Tod führt das Messer ich entkomme ihm nicht diesem Ungeheuer“, zwischen Melancholie und Schrecken notiert das Ich das Zeitmaß: „ich buchstabiere meine Lebenstage“.
Wenn Zeit als Atem dieser Gedichte spürbar ist, so der Körper als ihr Ort. Das Körperlich-Werden der Zeit ist wörtlich zu nehmen, der Körper ist der Zeitlichkeit am unmittelbarsten ausgesetzt und Zeit die schmerzlichste Erfahrung des Körpers. Dennoch gibt es eine dritte Komponente, so dass die Zeit als Scharnier zwischen dem Körper und dem Schreiben fungiert und diese beide ineinander verschränkt. Im eigenen Körper wird die zeitliche Erfahrung taktil. Der Körper ist Medium und Urgrund dieser Erfahrung. Im Schreiben dagegen, das sich hier der Wahrnehmungen mitsamt ihren Brüchen annimmt, erhält der „fransentragende Tag“ einen Ausdruck. Schreiben wird zwar als Fluchtpunkt sichtbar, es ist aber stets ein Ziel, das völlig im Gegenwärtigen wurzelt. Diesen äußersten Fluchtpunkt beschwören die Gedichte in diesem Band mit einer Intensität, die erschüttert. Das „Honig Verlangen : Ingwer Verlangen des Schreibens, dieses wie vor 1 Sturz / schräg nach vorne Dahinfliegen, -flüchten, -flitzen und -stürmen, / einem schrecklichen Fluchtpunkt entgegen“, wie es da heißt, ist allerdings dem Körper selbst eingeschrieben. Erscheint dieser einerseits als bloßes Vehikel des Schreibens, geduldet, „solange er noch / sitzen kann und Wörter schreiben auf der Maschine“, so ist er doch andererseits Träger dieser Sehnsucht, die das Schreiben darstellt: „wie groß die Sehnsucht wie groß das Zerren / das Verzerrte die Zerrissenheit dieses Leibs“.
Der Tod, sei es Jandls Tod, sei es der Tod der Mutter, des Vaters, ist immer an den eigenen herangedacht, „bis Ende, eigenes, und Holzgewand„, wird dadurch zu einer intimen Erfahrung. Neben Trauer, Schmerz und Verzweiflung gibt es da jedoch auch Wut und Auflehnung – gegen den Tod, den Schmerz, die Zumutung des körperlichen Zerfalls. „weil, ich fluche ich flenne / ich durchdringe mich selbst ich zehre ich zerre mir / Haut und Farbe und Sprache von diesen meinen brüchigen Knochen“. In den Gedichten „Maria ELLEND“ und „tempelhüpfen“ etwa wird die Auflehnung zur Anklage, schließlich zu einer klaren Absage: „wo bleiben die viel versprochenen Engelschöre„, des „Brüderchens Ohr“ ist angefüllt mit Erde, „so daß keine Musik kein einziger Ton mehr eindringen kann kein Schlagzeug keine Posaune kein süßer / Gesang : Billie Holiday“, daher: „würde / ich diesen HIMMEL ertragen, – nein.“
Die Auflehnung gegen den Tod liegt genau in der Mitte zwischen dem Schmerz und einem ganz gegensätzlichen wie eigenständigen Lebensgefühl, einer vibrierenden Lust und Leidenschaft, zu der das Ich dieser Gedichte gleichermaßen fähig ist. Eine außerordentliche Intensität ist spürbar, an Sapphos Gedichte erinnernd: „dies dies dies dieses Entzücken ich KLEBE an dieser Erde / an dieser hinschmelzenden Erde an diesem Baldachin / eines Junihimmels“; „diese Lust diese / Süße ich KLEBE an dieser Flammen Erpressung an diesem Licht an diesem Himmel“, „ach ich KLEBE an diesem / Leben an diesem LEBENDGEDICHT.“
In der Wortmontage „LEBENDGEDICHT“ kommt die Verquickung, die Symbiose zwischen Schreiben und Leiben am bildhaftesten zum Ausdruck. Das Schreiben, als „FETZEN PAPIER, im Tagesablauf so / innen“, mag an unscheinbaren Orten einsetzen, mit dem Stilleben der unmittelbaren Umgebung. Da ist das „Stilleben auf dem Schreibplatz : Schnabelkanne und Haube“, da sind „die grünen Tatzen die Stifte der Hut der duftende / Tannenzweig auf der Tischplatte“, die Tannenzweige, „Gespielinnen“ von „Stiften Kalenderblättchen Scheren“. Als Stilleben sind die Dinge verwandelt in ihre Wörter. Darum gibt es hier Gedichte „auf einen Pappteller“ oder „auf 1 Trinkglas […]„. Auch das Ich verwandelt sich in Wörter, in Sprache: „ich bestehe nur noch aus BLANCHE ich habe mich verwandelt in BLANCHE“. Und dann sind da noch die Tiere, die ein den Dingen verwandtes Stilleben führen: „Flügelpaar einer / Mücke am Fenster“, „der Vogel der Vogel“, der „Vogel in meinem Herzen Vogel in meinen / Haaren“ oder „das spuckende / Vögelchen in mir“. Auch die Tiere – als Stilleben, als Stimmen -, verkörpern die „Sehnsucht nach Worten“, die sich ihrerseits als Sehnsucht nach einem ganz Anderen, wenngleich Nahen, veranschaulicht: „ich möchte manchmal / 1 kleines Tier, sagt er, Meerschweinchen Ratte Igel vielleicht / zum in die Hand Nehmen zum in der Hand Halten“. Es ist bemerkenswert, dass Mayröcker diese Ernst Jandl gewidmeten Zeilen auch in ihrem „Requiem für Jandl“ wieder aufrufen wird.
Die Zeit scheint hier zu einem Stillstand gekommen, und doch ist sie zugleich als erzwingende Instanz gegenwärtig, „solch Schreibgewitter bin ganz erpreßt“. Erpresst und ausgepresst fällt das schreibende Ich gleichsam in ein Sprachloch: „1 / ganzen Tag mit niemand gesprochen die Sprache / verlernt“. Die Anrufungen der Schreibenden, selbst Zwiegespräch, brauchen die Anrufe von außen. Deshalb die zahlreichen Bezüge auf Nachrichten und Stimmen auf dem Anrufbeantworter: „nur 1 paar Worte auf meinem Band die auf der Stelle / mich versetzen in 1 andere Welt“, oder „ich höre Vogelstimme im Telefon, was für 1 Vogel frage ich“.
Den Anrufen entspricht der „Auslug“, „das Tüpfchen Fenster : Pünktchen / Fenster“, des schreibenden Ich, das die „Rollo“ hinaufschiebt: „damit den Himmel / ich sehen kann während ich schreibe“. Im Hören, im Sehen konstituiert sich das Sehnen, damit das Schreiben. Darin liegt zugleich dessen Grenze. In einer der zärtlichsten Passagen, in denen sich das Ich an den Blickwinkel des toten Geliebten anschmiegt, beklagt es allererst den Verlust der Schreibmöglichkeit: „NACKEND NACKEND NACKEND / END von Ende gehst / in die Erde hast nicht Faden an dir nicht Aufschreibbüchlein noch / Brille noch Stift […]“.
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