#Sachbuch

Max Brod (1884-1968). Die Erfindung des Prager Kreises

Steffen Höhne, Anna-Dorothea Ludewig, Julius H. Schoeps (Hg.)

// Rezension von Johann Holzner

Es ist ganz bezeichnend, kurz und bündig und doch vielsagend, wie Peter Demetz in seiner autobiographischen Schrift Mein Prag (2007) Max Brod vorstellt; er charakterisiert ihn als „Kafkas treuesten Freund“. Als Kafkas Nachlassverwalter ist Brod in aller Welt berühmt, als Autor und Übersetzer ist er hingegen nach wie vor nur Kennern der Prager deutschen Literatur präsent. – In Verbindung mit der von Hans-Gerd Koch und Hans Dieter Zimmermann betreuten Werkausgabe (die im Wallstein Verlag erschienen ist) versucht auch der vorliegende Sammelband, dem Schriftsteller Max Brod zu neuem Ansehen zu verhelfen; gleichzeitig jedoch wird das von Brod entwickelte, später vielfach übernommene (und modifizierte) Konzept des Prager Kreises einer kritischen Revision unterzogen und als (unhaltbares) Konstrukt, als Erfindung ausgewiesen. Ein Hammer für die Literaturgeschichtsschreibung, namentlich auch für Studien zur sudetendeutschen Literatur und zur Prager Moderne.

Der Band versammelt die Beiträge einer Tagung, die im Mai 2014 in Prag stattgefunden hat (veranstaltet vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien Potsdam in Kooperation mit dem Germanistik-Institut der Karlsuniversität Prag, der Musikhochschule Franz Liszt Weimar und dem Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren). Schon auf dieser Konferenz, deren Schirmherrschaft Karel Schwarzenberg übernommen hatte, stand das scheinbar wohl-fundierte Bild des Prager Kreises (und damit im Zusammenhang das Bild der gesamten deutschböhmischen Literatur) immer im Vordergrund, ein Artefakt, in dem Prag, „ungeachtet aller literarisch-kulturellen Heterogenität“, zuallererst von Brod, „zu einem Topos verdichteter Kommunikation“ (Steffen Höhne) hochstilisiert worden ist. Nach einschlägigen kritischen Vorarbeiten, u. a. von Scott Spector und Georg Escher, die den Konstrukt-Charakter der Kreis-Vorstellung (mit seiner Tendenz, alle in den Kreis einberufenen Autoren als Mitglieder einer neuen Avantgarde auszuzeichnen) schon angezeigt haben, gehen etliche Beiträge dieses Bandes noch einen Schritt weiter, indem sie auch die insgesamt weit reichenden Konsequenzen der von Brod (oder unter Berufung auf Brod) vorgenommenen Zuschreibungen aufdecken.

Am Beginn allerdings steht doch noch einmal eine Studie zur Beziehung zwischen Kafka und Brod. Hans-Gerd Koch informiert insbesondere über die Anfänge dieser freundschaftlichen Beziehung, in die bald auch Franz Blei einbezogen gewesen ist, dessen Zeitschrift Hyperion erstmals Texte von Kafka präsentiert. Brod, sonst für Einwendungen kaum zugänglich, hat Kafkas Kritik an seinen eigenen literarischen Unternehmungen stets willkommen geheißen und geschätzt, ganz anders als Kafka neigt er indessen dazu, sich selbst zu überschätzen. – Angesichts der doch sehr unterschiedlichen Schreibstrategien, die Brod und Kafka verfolgen, kann es nicht weiter verwundern, dass ihr Vorhaben, gemeinsam einen Roman zu schreiben, das Projekt Richard und Samuel, gescheitert ist. Aber andererseits schöpfen beide „aus einer sich vielfach überschneidenden Gedanken- und Vorstellungswelt“, wie Koch an eindrucksvollen Beispielen sichtbar macht; daraus bezieht er dann auch das Hauptargument für sein Plädoyer, den Schriftsteller Brod endlich wieder (oder auch gleich neu) zu entdecken.

Dieses Plädoyer wird umgehend von mehreren Seiten unterstützt: Ingeborg Fiala-Fürst würdigt Brod (der den Expressionismus mehrfach heftig attackiert hat) als Wegbereiter der expressionistischen Programmatik, wobei sie vor allem seine frühen Erzählungen, den Roman Schloß Nornepygge (1908) und den Essayband Über die Schönheit häßlicher Bilder (1913) als Zeugen aufruft und die von Brod forcierte Theorie des Indifferentismus als Beleg nimmt; weniger feurig beurteilt sie seine Lyrik, die es ihrer Ansicht nach trotzdem verdiene „miterinnert“ zu werden. Aber, sogar die so genannten Kriegsgedichte Brods würden das verdienen, behaupten dann Karl Braun und Jaromír Czmero. Braun interpretiert Brods Beitrag zur Anthologie Kriegslieder deutschböhmischer Dichter (1916), das Gedicht Die neue Stadt, als „Kriegserklärung an den Krieg“, und auch Czmero sieht im selben Gedicht (das er zunächst einer werkimmanenten Betrachtung unterzieht und schließlich in den jüdisch-zionistischen Diskurs der Zeit rückt) „eine subversive Tat“, ein Dokument des Engagements gegen die „vermeintlich zivilisierten Kulturvölker“ Europas, zugleich ein Dokument der Parteinahme für das Ostjudentum. – Mit den Theaterstücken Max Brods beschäftigt sich Klaus Völker. Die Stücke, schon zu Lebzeiten des Autors nicht sonderlich erfolgreich, vor allem nicht in den Zentren der Theaterwelt, sind längst vergessen; die zeitgenössischen Rezeptionszeugnisse hingegen verweisen immer noch auf eine Kultur der Auseinandersetzung, die höchst-lebendig und doch zugleich vornehm gewesen ist. Einen Überblick über die Romane Brods gibt schlussendlich Hans Dieter Zimmermann, verbunden mit einer Fülle von Anregungen, diesen Romanen (die vielfach autobiographisch grundiert sind) künftig detailliertere Abhandlungen zu widmen.

Mit den Auseinandersetzungen über die adäquate Kafka-Deutung zwischen Max Brod und Hans-Joachim Schoeps auf der einen sowie Gershom Scholem und Walter Benjamin auf der andern Seite befasst sich Julius H. Schoeps, während Anna-Dorothea Ludewig das Frauenbild im Werk von Max Brod kritisch unter die Lupe nimmt. In beiden Aufsätzen kommen innerjüdische Kontroversen zur Sprache, Vorurteile und Stereotypen; man ist geneigt, vom „Zeitgeist“ zu reden, und sollte gleichwohl doch eher darauf verzichten.

Im Hauptkapitel des Bandes geht es um die Erfindung des so genannten Prager Kreises – „die Geburt einer Literatur von Weltgeltung aus dem Geist einer literaturwissenschaftlichen Milchmädchenrechnung“ (Manfred Weinberg). Brod hat immer als Kronzeuge gedient, wo die Positionierung der Prager deutschen Literatur (mit dem Triumvirat Rilke – Werfel – Kafka an der Spitze) im Zentrum der gesamtdeutschen Literaturlandschaft vorangetrieben worden ist. Die führende Rolle in diesem Prozess hat in den 1960er Jahren Eduard Goldstücker übernommen. Weinberg allerdings weist nach, dass Brod mit seiner Visualisierung noch keineswegs auf jene Schwarz-Weiß-Malerei abzielt, die später messerscharf getrennt hat: zwischen der humanistischen Literatur in Prag zum einen und der nationalistischen Literatur der Sudetendeutschen zum andern. Brod hat im Gegenteil vor dem Prager Kreis (mit Kafka im Mittelpunkt) ausdrücklich auf den „Ahnensaal“ des Kreises hingewiesen (mit Ausführungen unter anderem zu Stifter, Charles Sealsfield und Marie von Ebner-Eschenbach) und er hat (sudetendeutsche) Autoren wie Erwin Guido Kolbenheyer und Bruno Brehm nicht unter moralisch-politischen Gesichtspunkten ausgesondert, sondern nach ihren literarischen Qualitäten beurteilt (als „gute Erzähler“ übrigens): Weinberg kommt demnach zum Schluss, die Zeit sei längst reif für neue, von den gewohnten Klassifikationen losgelöste Forschungsarbeiten über das gesamte Feld der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens. Jörg Krappmann und Steffen Höhne nehmen in ihren Aufsätzen diesen Aufruf bereits auf und stellen eine Fülle weiterer Belegstücke zusammen, die mit der von Brod eingeführten Kreismetapher, mehr noch aber mit der später (unter politischen Vorzeichen) erfolgten dogmatischen Dichotomisierung zwischen der deutschen Literatur aus Prag und der Literatur der Sudetengebiete kollidieren.

Aufsätze über Brods Konzeption der Literaturkritik und über sein Korrekturverhalten (das Deutsch Kafkas korrigiert er mit strengerem Blick als sein eigenes) und Studien über Brod als Politiker (einen der angesehensten Zionisten in Böhmen) schließen an diesen Hauptteil an. Hervorzuheben wären ferner ein Beitrag über Brod als Übersetzer, besser gesagt: Nachdichter der Libretti der Opern von Leoš Janácek (von Alena Wagnerová), sowie die sorgfältig erstellte Übersicht über die zeitgenössische Rezeption der Prosa-Arbeiten Brods (von Barbora Šrámková, die auch ein Buch über Max Brod und die tschechische Kultur vorgelegt hat). Aufsätze über Auguste Hauschner, die Cousine des Sprachphilosophen Fritz Mauthner und „Urgroßmutter der Prager Literatur“ (© Ingeborg Fiala-Fürst), über Willy Haas und Ludwig Winder und über Brods Netzwerke (auch im tschechischen Literatursystem sowie im Exil in Tel Aviv), darüber hinaus noch eine Auflistung der Briefe Brods im Literaturarchiv des Museums der tschechischen Literatur (im Prager Strahov-Kloster) sowie ein Personen- und Ortsregister beschließen den in jeder Hinsicht gewichtigen Band. – Dass alle Beiträge ausführliche, umsichtig zusammengestellte Literaturverzeichnisse mitliefern, sei dankbar angemerkt.

Im Hinblick auf die erste Zielsetzung dieses Buches, Brod auch als Schriftsteller und nicht nur als Vermittler im Kontext der deutschen wie der tschechischen Kultur vor den Vorhang zu holen, bleibt wohl abzuwarten, ob sich die hoch-gesteckten Erwartungen der Herausgeber erfüllen (nachdem der Druckfehler-Teufel schon einmal Broch vor Brod gesetzt hat; vgl. S.186); es wird sich weisen. Die zweite Zielsetzung jedoch, nämlich eine radikale Revision der Geschichte der deutschsprachigen Literatur in Böhmen und Mähren anzustoßen und weiterzuführen, ist zugleich ein Appell: nicht zuletzt an die Adresse der Germanistik in Österreich gerichtet.

Steffen Höhne, Anna-Dorothea Ludewig, Julius H. Schoeps (Hg.) Max Brod (1884-1968). Die Erfindung des Prager Kreises
Sachbuch.
Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2016 (= Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert, Band 9).
412 S.; geb.
ISBN 978-3-412-50192-1.

Rezension vom 07.11.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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